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Eheroman (German Edition)

Eheroman (German Edition)

Titel: Eheroman (German Edition)
Autoren: Katrin Seddig
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alte Knochen in einem Erdloch, die Medikamente gegen die Schmerzen haben sie gleichgültig gegen alles gemacht, und Andreas und ihr ist es jetzt auch fast egal. Leute sterben im Krankenhaus. Irgendwann muss mal Schluss sein. Man kann sich nicht an einer Frau aufhalten. Um sechzehn Uhr ist sie tot.
    Zwei Wochen später trifft sie Herrn Balzer, Andreas, im Schwesternzimmer, wo er gar nichts zu suchen hat. Er fragt nach Nähzeug.
    «So was hab ich nur bei mir zu Hause», sagt sie.
    «Dann kann ich da vielleicht mal vorbeikommen?», sagt er und blinzelt müde und lächelt, und sie glaubt, es kann nicht sein, dass er das gesagt hat, oder er hat es nicht so gemeint, wie es sich erst einmal anhört, wenn man normal denkt. Beate und Elvie reißen die Augen auf, und Beate schreit: «Herr Balzer baggert die Ava an, eh eh eh!»
    «Ph!», sagt Ava, und ihr Gesicht wird heiß. Aber Beate hat recht.
    Beate reißt Elvie am Arm mit aus dem Zimmer, und auf dem Gang kichern sie.
    Allein gelassen mit Herrn Balzer, sagt sie: «Ich kann das Nähzeug auch mitbringen und den Knopf annähen, oder worum es geht, obwohl das echt nicht zu meinen Aufgaben als Auszubildende gehört … Herr Balzer. Echt nicht.»
    «Ja, ich wollte auch nur …», sagt er, «dass wir vielleicht mal ein Bier trinken oder so.»
    «Oder so.» Sie grinst. «Oder was oder so?»
    «Oder Wein. Oder Cola. Oder Milch.»
    «Milch ist nicht mehr gesund für Erwachsene. Eher was Gesundes doch wie Bier. Bier ist sehr gesund wegen des Hopfens, das hilft vorbeugend gegen Krebs.»
    Seit der Tschernobylkatastrophe im Frühjahr ist die Angst vor Krebs bei den Leuten fast wie die Angst vor der Grippe geworden, wenn auch ungleich größer, aber der Krebs ist näher an sie herangekrochen, ist weniger ein Schicksal als eine Bedrohung geworden, der man sich zu entziehen versucht. Im Frühsommer waren weniger Leute draußen auf den Straßen gewesen, eine feine, großflächige Angst hatte sich ausgebreitet, eine Angst vor dem Essen und dem Leben, und ein großes Misstrauen hatte sich dafür breitgemacht. Ava, die täglich mit dem Krebs umging, hatte die Angst nicht so akut gespürt, sondern wie eine Enttäuschung über die Unsicherheiten, die das Leben bereithielt, über die mangelnde Fürsorge und den mangelnden Schutz, den Staaten und Regierungen boten, und sie war endgültig und aus eigenem Entschluss aus dem Kinderleben in das bittere Erwachsenenleben hineinmarschiert.

    Am Abend, in der Kneipe September, fragt er sie, wie sie das sieht mit den Patientenverfügungen und den lebenserhaltenden Maßnahmen. Sie sagt: «Och, es ärgert mich nur, wenn die Leute Schmerzen haben, das ist alles.»
    «Es ärgert dich?»
    «Wenn die Leute Schmerzen haben, wenn man das richtig sieht, und wenn sie sich so verzerren deshalb, wenn Leute sich so im Gesicht und am Körper verzerren und ganz schief werden, weißt du? Wie das aussieht, du weißt doch, was ich meine, oder? Das kann ich nicht leiden. Auch wenn sie krank sind und das nicht anders geht, auch wenn sie sehr krank sind und das nicht mehr besser wird, sie sollen es gut haben und angenehm, und es soll ihnen nichts weh tun, das ist das Wichtigste.»
    «Und sterben? Ist das nicht viel schlimmer, dass sie sterben?»
    «Vielleicht. Ja. Wahrscheinlich. Aber das macht mich nicht so wütend, wie wenn jemand Schmerzen hat. Ich weiß nicht, warum.»
    «Ein Kind, stell dir vor, ein Kind stirbt. Ich weiß nicht, ob du das schon gesehen hast.»
    Sie sieht ihn an, über das große Bierglas hinweg in der braunen, staubigen, lichtlosen Schankstube mit all dem muffigen Holz. «Ich weiß. Das habe ich gesehen. Da reiße ich mich zusammen und mache alles, wie es sein muss, nach Vorschrift, das ist alles ganz mechanisch und ordentlich, und ich denke, halt den Mund, Ava, keiner interessiert sich jetzt für dich. Und es ärgert mich nicht. Das wäre … frech.»
    In seiner Wohnung an der mittelalterlichen Münzstraße, auf seinem lila bespannten Bett, entjungfert er sie. Sie sagt ihm nicht, dass er sie entjungfern wird. Was soll man dazu auch sagen? Du, ich bin noch Jungfrau? So ein Wort ist an sich schon altmodisch und peinlich. Oder zu sagen, ich habe noch nie … Und dann im Satz stocken. Das hat sie sich auch überlegt. Alles. Aber dann hat sie beschlossen, es auf sich zukommen zu lassen und gar nichts zu sagen. Denn wenn ein Mann weiß, dass er eine Frau entjungfern wird, dann kriegt er Angst. Das hat Beate ihr gesagt. «Die ziehn manchmal den Schwanz ein,
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