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Edelweißpiraten

Edelweißpiraten

Titel: Edelweißpiraten
Autoren: Dirk Reinhardt
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ihr bestanden. Ab jetzt seid ihr Edelweißpiraten!«
    Wahrscheinlich hat’s nie was gegeben, auf das Tom und ich mehr stolz gewesen sind. Als wir uns auf den Heimweg gemacht haben, sind wir fast geplatzt vor Freude.
    Das ist jetzt ’n paar Stunden her, inzwischen ist es mitten in der Nacht. Aber zum Schlafen bin ich viel zu aufgeregt. Wahrscheinlich komm ich morgen zu spät und mach alles falsch und muss wieder zum Personalleiter. Aber egal, was der mit mir anstellt: Ich werd’s ertragen. Mit ’nem Lächeln.
    Irgendwie kann ich immer noch nicht fassen, was passiert ist. Ich hab das Gefühl, als hätte ich gestern erst angefangen zu leben.

 
    Das Erste, das mir auffiel, war der Geruch. Es war eine Mischung aus Desinfektionsmitteln, abgestandenem Tabakqualm und dem süßlichen Gestank irgendeiner Arznei, die sich alte Männer auf die Brust reiben, damit sie nachts nicht husten müssen. Es roch unangenehm, irgendwie deprimierend. Mein erster Gedanke war, auf der Stelle kehrtzumachen und wieder zu gehen.
    Dann musste ich daran denken, wie viel Mühe es mich gekostet hatte, überhaupt herzufinden. Der alte Mann, den ich auf dem Friedhof getroffen hatte, war mir nicht aus dem Kopf gegangen. An den folgenden Tagen war ich mehrere Male dort gewesen, hatte ihn aber nicht wiedergesehen. Ich fürchtete schon, ich könnte ihn vertrieben haben mit meinen Fragen.
    Nachdem ich zum dritten Mal vergeblich auf ihn gewartet hatte, war ich zum Friedhofswärter gegangen, um mich nach ihm zu erkundigen. Wie sein Bruder hieß und wo dessen Grab lag, wusste ich ja. Zum Glück kannte der Friedhofswärter ihn, da er in seinem Auftrag manchmal Blumen auf das Grab stellte. So erfuhr ich, dass der Name des Mannes »Josef Gerlach« war und er in der Nähe des Friedhofs in einer Art Wohnheim für ledige alte Männer lebte. Und genau dort, in der Eingangshalle, stand ich nun und versuchte mich an den fremdartigen Geruch zu gewöhnen.
    Ein Mann, der in einem Glaskasten hockte, winkte mich zu sich. »Zu wem willst du?«, fragte er.
    »Zu Herrn Gerlach.«
    »Josef Gerlach?«
    »Ja.«
    Er deutete quer durch die Eingangshalle. »Nimm den Aufzug da hinten. Dritter Stock, Apartment 309. Und sei leise, es ist nämlich Mittagsruhe!«
    Ich tat, was er sagte. In den Aufzug stiegen gerade ein paar ältere Leute ein. Ich hatte keine Lust, mit ihnen mitzufahren, und blieb erst mal unten. An der Wand hing die Hausordnung. Schwarze Schrift auf rotem Grund, drei eng bedruckte Spalten. Was tue ich hier eigentlich?, fuhr es mir durch den Kopf.
    Schon auf dem Hinweg hatte ich darüber nachgedacht. Mein Großvater war mir eingefallen. Besonders unsere letzte Begegnung, bevor er so plötzlich und unerwartet gestorben war. Er hatte mehrfach dazu angesetzt, mir eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte aus seiner Kindheit, die ihm anscheinend viel bedeutete. Aber ich hatte meine eigenen Sachen im Kopf gehabt und kein großes Interesse, sie zu hören. Beim nächsten Mal, hatte ich zu ihm gesagt. Und dann hatte es kein nächstes Mal mehr gegeben.
    Immer wenn ich daran dachte, tat es mir entsetzlich leid. Er hatte es
mir
erzählen wollen, vielleicht sonst niemandem. Weil es ihm wichtig gewesen war, dass ich es erfuhr. Und ich hatte nicht zugehört. Wahrscheinlich war das der Grund, warum ich zu seinem Grab ging – und genauso der Grund, warum ich jetzt hier war und diesen alten Mann besuchte. Denn als er auf dem Friedhof seine Einladung aussprach, hatte in seinen Augen der gleiche Ausdruck gelegen wie bei meinem Großvater, als er seine Geschichte erzählen wollte. So war es wohl: Man bekommt nicht oft die Gelegenheit, etwas wiedergutzumachen.
    Ich musste lange auf den Aufzug warten. Er war langsam und brauchte eine halbe Ewigkeit für jedes Stockwerk. Als ich in der dritten Etage ausstieg, war niemand zu sehen. Ich ging den Flur entlang auf der Suche nach dem richtigen Zimmer. Irgendwie war es beklemmend, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Die Teppiche, die Tapeten, die Bilder an den Wänden: Alles war geschmackvoll und aufeinander abgestimmt. Aber vielleicht war es gerade das. Man versuchte es nett zu
machen
, weil es nicht wirklich nett
war
.
    Schließlich hatte ich das Zimmer mit der Nummer 309 gefunden. Eine Zeit lang stand ich davor und wagte nicht anzuklopfen. Was sollte ich zu dem alten Mann sagen? Vielleicht kam ich ja in einem unpassenden Moment, und alles würde lächerlich und peinlich sein. Vielleicht hatte er mich auch längst vergessen und
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