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E-Book - Geisterritter

E-Book - Geisterritter

Titel: E-Book - Geisterritter
Autoren: C Funke
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reichte ihr ein Taschentuch (einziemlich abscheuliches mit rosa Spitze und gestickten Rosen). Der Blick, den sie mir dabei zuwarf, drückte deutlich aus, dass sie weder von mir noch von Kindern im Allgemeinen allzu viel hielt. Meine Mutter aber färbte die gestickten Rosen mit ihrer Wimperntusche schwarz und begann zu kichern. Die Blicke, die die drei alten Damen daraufhin austauschten, zeigten, dass sie auch von kichernden Müttern nicht allzu viel hielten.
    »Mam!«, raunte ich über den Tisch. »Es ist alles gut! Ich kann auch jedes Wochenende kommen!«
    »Ach, Jon!«, flüsterte sie und wischte sich noch einmal hektisch an den Augen herum. Dann lehnte sie sich über den Tisch, zog mich an sich und drückte mich so heftig, dass ich dachte, sie würde mich nie wieder loslassen. Als sie es schließlich tat, sah sie ziemlich glücklich aus. Sie lächelte sogar den drei Damen zu. Dann gab sie das geschwärzte, tränennasse Taschentuch zurück und wir stiegen die Treppe hinunter und bezahlten meine Eclairs und ihren Kaffee.
    Es war ein schöner Tag, wärmer als jeder andere, den ich bislang in Salisbury erlebt hatte, und wir redeten über meine Schwestern und unseren Hund und dass der Vollbart allergisch gegen seine Haare war – und irgendwann fanden wir uns auf dem Domhof wieder.
    »Komm, lass uns in die Kathedrale gehen«, sagte Mam. »Ich bin zuletzt mit deinem Vater dort gewesen.«
    Die Kreuzgänge waren fast menschenleer und auch in der Kathedrale war kaum jemand. Wir gingen den Hauptgang hinunter, bis meine Mutter plötzlich stehen blieb. Vor Longspees Sarg.
    »Dein Vater liebte dieses Grabmal«, sagte sie. »Er wusste alles über diesen Ritter. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen …«
    »Longspee«, sagte ich. »William Longspee.«
    »Genau! Das war sein Name. Sie bringen dir eine Menge bei in dieser Schule! Dein Vater war besessen von ihm. Einmal ist er mit mir hinauf nach Old Sarum gefahren, nur um mir den Ort zu zeigen, wo Longspee gestorben ist. Weißt du, dass man sagt, dass er vergiftet wurde?«
    »Ja«, sagte ich. »Und er war sehr verliebt in seine Frau.«
    »Ach ja?«
    »Mam?«, fragte ich zurück. »Hat Dad dir je erzählt, dass er Longspee getroffen hat?«
    »Getroffen? Wie meinst du das?«
    Sie sah mich verständnislos an. Also nicht. Oder er hatte ihr nicht davon erzählt. So wie ich.
    »Glaubst du an Geister, Mam?«
    Sie musterte Longspees Marmorgesicht und ließ den Blick an all den anderen Toten entlangwandern, die zwischen den Säulen schliefen.
    »Nein«, sagte sie schließlich. »Nein, tue ich nicht. Denn, wenn es Geister gäbe, hätte dein Vater mich besucht, nachdem er gestorben ist.« Sie griff in ihre Tasche. »Oh, warum hab ich der alten Dame nur ihr abscheuliches Taschentuch zurückgegeben?«, murmelte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich hätte wissen müssen, dass ich es noch brauchen werde!«
    Ich griff nach ihrer Hand. »Es ist gut, dass er nicht zurückgekommen ist, Mam«, sagte ich leise. »Es beweist, dass er glücklich ist, dort, wo er ist. Geister sind nicht gerade glücklich, weißt du?«
    Sie blickte mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Seit wann denkst du über Geister nach, Jon? Alle reden plötzlich über Geister! Hat Matthew dir diese Gedanken etwa in den Kopf gesetzt?«
    »Nein!«, antwortete ich. »Wir haben in der Schule darüber gesprochen.« Es war kein gutes Gefühl, in einer Kathedrale zu lügen, aber ich hatte wirklich nicht den Eindruck, dass meine Mutter die ganze Stourton-Longspee-Geschichte an diesem Tag verkraftet hätte. Der Vollbart und ich erzählten sie ihr erst viele Jahre später, und ich bin bis heute nicht sicher, ob sie uns geglaubt hat.
    »In der Schule?«, fragte Mam ungläubig. »Sie reden mit euch über Geister? In welchem Fach?«
    »Oh, ehm … Englisch«, stotterte ich. »Du weißt schon, Shakespeare und so.«
    »Ah ja«, sagte sie. »Sicher.« Dann drückte sie meine Hand und strich mir durchs Haar (was ich mit elf natürlich äußerst peinlich fand). »Was hältst du davon, wenn wir uns von dem toten Ritter verabschieden und essen gehen?«
    »Gute Idee«, murmelte ich – und glaubte für einen Moment, Longspee zwischen den Säulen stehen zu sehen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ein paar Wochen später fragte ich ihn, ob er vor etwa fünfunddreißig Jahren einen Jungen namens Laurence Whitcroft getroffen hatte. Aber mein Vater hat Longspee nie gerufen, vielleicht weil er auch damals schon einfach nur glücklich
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