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Dylan & Gray

Dylan & Gray

Titel: Dylan & Gray
Autoren: Katie Kacvinsky
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ich.
    Meine Tage sehen immer gleich aus: Mittagessen, Computerspiele, Gitarre üben, Hanteln stemmen, übers Leben nachgrübeln, meinen Eltern aus dem Weg gehen, Teilzeit im Videoladen jobben.
    »Ich könnte jemanden brauchen, der mich mit dem Auto nach Hause bringt.«
    Ich tue so, als würde ich eine Nachricht auf meinem Handy checken, um Zeit zu gewinnen und mir eine Ausrede einfallen zu lassen.
    »Weil ich nämlich mit dem Bus von Scottsdale gekommen bin und das hat zwei Stunden gedauert«, fügt sie hinzu.
    Schon wieder klappt mir die Kinnlade herunter. Jeder weiß, dass man in Phoenix ein Auto braucht. Ich kenne nur eine Ausnahme, nämlich ein gewisses Mädchen, das hier in Jeans herumläuft und sich per Anhalter kutschieren lässt.
    »Du wohnst in Phoenix und hast kein Auto?«
    »Doch, ich habe eins«, sagt sie. »Mir gefällt es nur besser, mit dem Bus zu fahren. Da sehe ich mehr von der Gegend. Aber heute kannst du ja mein Stadtführer sein.«
    Glaubt sie wirklich, dass ich nachmittags nichts anderes zu tun habe als Chauffeur zu spielen? Nun ja, stimmt natürlich. Aber trotzdem ist es unhöflich, so etwas anzunehmen. Außerdem würde keine normale Person einen Wildfremden mit einem derartigen Wunsch überfallen. Und wer fährt schon freiwillig mit dem Bus? Der ist wie ein Ghetto auf Rädern.
    »Du kennst mich doch gar nicht«, warne ich sie. »Vielleicht züchte ich in meiner Freizeit Skorpione.«
    Sie mustert mich einen langen Moment, dann lächelt sie. »Ich habe dich schon öfter auf dem Campus gesehen. Du tust nicht viel, sitzt im Schatten herum, trommelst mit den Fingern auf den Boden und hörst Musik. Manchmal spielst du auch Luftgitarre«, fügt sie hinzu. »Die meiste Zeit siehst du gelangweilt und schläfrig aus. Aber insgesamt wirkst du harmlos. Außerdem bist du irgendwie süß.«
    Ich starre sie an. Also hat sie mich beobachtet, während ich sie beobachtet habe. Und ihr Urteil über mich lautet: langweilig und harmlos. Ich frage mich, ob ich bei allen Mädchen so ankomme. Na ja, wenigstens hat sie noch das »irgendwie süß« hinterhergeschoben.
    »Ich kann dich in einer Stunde hier abholen«, höre ich mich selbst sagen. Am liebsten würde ich mir die Worte zurück in den Hals stopfen und sie für immer in der Schublade »Halt-bloß-den-Mund-du-Idiot« verschwinden lassen. Was soll ich mit ihr anstellen? Aber bevor ich mein Angebot zurücknehmen kann, nickt sie schon.
    »Perfekt. Ich knipse in der Zwischenzeit die restlichen Fotos für meine Campus-Serie.« Mein Blick wandert über das vertrocknete Gras, die Betonbänke, die dürren Bäume und den staubigen Boden. Sie will eine ganze Stunde damit verbringen, etwas abzulichten, von dessen Hässlichkeit einem die Augen brennen? Mit einem Seufzer mache ich mich auf den Weg zu meinem Schreibkurs und denke bereits über einen Fluchtplan nach.
    Dylan
    Ich sitze auf dem trockenen, kratzigen Gras und schaue dem Jungen interessiert nach, während er sich so hastig durch die Tür des Unigebäudes duckt, als müsse er vor einem Kugelhagel in Deckung gehen.
    Bei meinem Sommerkurs in Fotografie habe ich zwei entscheidende Dinge gelernt. Erstens, wie man Leute beobachtet. Kaum zu glauben, was Menschen über sich verraten, wenn sie davon ausgehen, dass niemand hinschaut. Zweitens, Schönheit gerade dort zu suchen, wo sie schwer zu entdecken ist. Ich gebe mir Mühe, das Leben wie durch eine Kameralinse zu betrachten. Gar nicht einfach, aber ich mag Herausforderungen. Normale Schönheit kann jeder sehen, doch inzwischen bleibt mein Blick an den Kleinigkeiten hängen, die man nur mit Geduld entdeckt. Man muss sich die Zeit nehmen, sie wie einen archäologischen Fund auszugraben und zu entstauben. Was Risse, Schwachstellen und fühlbare Kanten hat, ist so viel interessanter als glatt polierte Perfektion. Das gilt auch für Menschen.
    Ich halte mich an den Tipp meines Lehrers, jeden Tag nach dem Unterricht eine Stunde lang Leute zu beobachten und Eindrücke zu sammeln. Eine Kamera hat gewisse Ähnlichkeit mit einem Tagebuch: Sie bewahrt Gefühle, Erinnerungen und Geschichten, wenn man sich die Zeit dafür nimmt. Dadurch bin ich auf diesen Typen aufmerksam geworden. Er ist leicht zu übersehen. Sein Rücken ist immer an irgendein Gebäude geheftet, und ich war kurz davor, ihn für eine moderne Statue zu halten, bis sich eines Tages unsere Blicke trafen. Selbst auf die Entfernung überraschte mich das Blau seiner Augen. Es erinnerte an einen Himmel kurz vor der
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