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Durch den Sommerregen

Durch den Sommerregen

Titel: Durch den Sommerregen
Autoren: Melanie Hinz
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Natürlich hat sie recht, mit jedem Wort.
    Erst als sie mir ein Taschentuch reicht, merke ich, dass ich wie ein Schlosshund heule.
    „Es ist okay, Lena.“ Liebevoll streichelt sie über meine Schulter. „Ich weiß selbst am besten, wie schwer es ist, so eine Sache loszulassen, wenn man sich einmal für lange Jahre darin verbissen hat. Aber lass dir dadurch nicht dein Leben verderben. Gabriel und du, ihr seid ein tolles Paar, und auch wenn es wahrscheinlich ein wenig anders rüberkommt, ich wünsche mir das für meinen Sohn. Vielleicht sind es gerade diese Schatten, die euch zusammengebracht haben, aber deshalb solltet ihr euch nicht von ihnen wieder trennen lassen.“
    Sie hat recht. Mit jedem einzelnen Wort. Es wäre unrealistisch zu glauben, dass ein Vorkommnis alles wieder gut macht, aber ihre Perspektive der Dinge bewegt ein Umdenken bei mir.
    „Kannst du nachfragen, wie es ihm geht? Ich denke nicht, dass die Ärzte mit mir reden werden.“
    Dana sieht mich misstrauisch an. Vermutlich überlegt sie, ob ich ihr überhaupt zugehört habe, doch meine verheulten Augen sprechen Bände.
    „Lass uns zusammen gehen“, sagt sie und nimmt meine Hand.

33.
    Er ist noch nicht wach, aber laut Aussage des Chirurgen ist alles gut gelaufen. Nur in einem OP-Hemd und mit einer kratzigen Krankenhausdecke bedeckt, liegt er in einem ansonsten noch unbelegten Doppelzimmer. Ich hocke mit angezogenen Knien in einem Stuhl vor seinem Bett und kaue an meinem Daumennagel. Dana sitzt neben ihm auf dem Bettrand und hält seine Hand.
    So gerne ich ihn auch berühren möchte, ich kann es gerade nicht. Nach meiner völlig unangebrachten Wut auf ihn, habe ich nicht das Recht dazu. Außerdem befindet sich in seiner anderen Hand ein venöser Zugang und ich will ihm einfach nicht noch mehr wehtun. Er wird schon genug Schmerzen haben, wenn die Narkose nachlässt.
    „Er wird wieder, Lena“, sagt Dana lächelnd in meine Richtung. „Du kannst dich entspannen. Er hat es geschafft.“
    Das hat er und ich bin unendlich dankbar dafür. Wenn ich ihn verloren hätte, dann weiß ich nicht, was ich getan hätte.
    Stöhnend bewegt er seinen Kopf in meine Richtung, als hätte er gespürt, wo ich bin, und öffnet träge die Augen. Doch noch ist er nicht richtig wach, weswegen seine Lider gleich wieder zu schwer werden und zufallen.
    „Ich hätte es fast verbockt“, flüstere ich zu mir selbst, aber Dana hört es natürlich.
    Sie gibt ihrem Sohn einen Kuss auf die Schläfe und kommt dann zu mir. Leise zieht sie einen Stuhl ran und setzt sich neben mich.
    „Darf ich dir von der traurigen Seite meines Berufs erzählen?“, fragt sie.
    „Natürlich.“
    „Manchmal sterben Babys noch vor der Geburt, manchmal währenddessen. Dafür gibt es oft keine greifbaren Gründe. Es passiert einfach. Ich hab solche Geburten auch schon begleitet und diesen Müttern ihre toten Babys in die Arme legen müssen. In der heutigen Zeit geschieht es nicht mehr oft, aber es ist nicht immer vermeidbar. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Verwandlung mit diesen Frauen vor sich geht. Es zerbricht etwas Elementares in ihnen, dass in dem Moment, wo sie ihre Kinder wieder abgeben müssen, jedes Leben aus ihrem Blick erlischt. Es gibt nur eine Situation außerhalb davon, in der ich das gesehen habe. In meinem Sohn, an diesem einen Tag. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Diese Frauen verlieren in dem Moment einen Teil von sich, den ihnen niemals jemand zurückgeben kann. Und weißt du, was dann passiert? Ein oder zwei Jahre später sitzen sie wieder vor mir, ängstlich, aber schwanger. Trotz dieses erlebten Albtraums haben sie es in sich, neu zu starten und einen weiteren Versuch zu wagen. Sie schaffen es, den ganzen Schmerz der Vergangenheit hinter sich zu lassen, um sich ihren größten Wunsch zu erfüllen. Sie gehen das Risiko ein, wieder verletzt zu werden, um glücklich zu sein.“
    Schon wieder heule ich. Eigentlich möchte ich mich nur an Gabriels Seite zusammenrollen und schlafen.
    Dana will gerade weiterreden, als Emma die Tür einen Spalt öffnet und vorsichtig um die Ecke schaut. „Ist er schon wach?“, fragt sie.
    „Noch nicht ganz“, sagt Dana. „Aber er kommt langsam zu sich. Kommt rein.“
    Da erst sehe ich Sam hinter ihr. Er hat einen Arm in Gips und eine genähte Platzwunde auf der Stirn. Es kostet mich unglaubliche Anstrengung, nicht aufzuspringen und ihm einen Kinnhaken zu verpassen. Meine Blicke gleichen offenbar Giftpfeilen, denn Emma stellt sich sofort
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