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Dunkles Erwachen

Dunkles Erwachen

Titel: Dunkles Erwachen
Autoren: Thomas Knip
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verloren«, wurde er von seinem kleinen Bruder berichtigt.
    »Nein, nein, nein!«, beharrte der zweite.
    »Doch, doch, doch!«, ließ sein Bruder nicht von seiner Meinung ab. Die Jungs schmollten sich gegenseitig an und waren nicht bereit, weiterzuspielen, bevor der strittige Punkt nicht geklärt war.
    Aus den Augenwinkeln nahm Nyeme Kwenzu einen Schatten wahr, der sich aus dem morgendlichen Dunst der Savanne löste. Einen Moment schrak er zusammen, dann jedoch erkannte er den Ankömmling.
    Es war die hagere Gestalt eines alten Mannes, der sich schwerfällig auf seinen langen Wanderstab stützte. Bekleidet war er mit nicht mehr als einem safrangelben langen Gewand, das den knochigen Körper fast vollständig bedeckte. Der ausgeblichene Stoff war an zahlreichen Stellen ausgefranst. Die Haut des Alten war unnatürlich bleich. Dieser Eindruck wurde durch den langen weißen, verfilzten Vollbart nur noch unterstrichen. Die Haare waren streng zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden.
    Der Alte nickte Kwenzu freundlich zu und wurde dann auf den Streit der Kinder aufmerksam. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Inhalt der Auseinandersetzung mitbekam. Beschwichtigend hob er die Hand, um den Disput zu beenden.
    »Kinder, bitte! Wenn ihr erlaubt, werde ich euch erzählen, was wirklich geschah.«
    Kwenzu winkte einen Nachbarn zu sich her, der in seiner Töpferarbeit innegehalten hatte, um das Bild auf der Straße zu beobachten.
    »Der alte N'sage hat ein paar neue Opfer«, flüsterte Kwenzu und grinste breit.
    »Lass doch«, schmunzelte sein Nachbar. »Den Kleinen macht's Spaß.«
    Beide gesellten sich zu den Kindern, nachdem sich der Alte am Stamm des Baumes niedergelassen hatte und sich gegen das kühle Holz drückte.
    »Also«, setzte er an, »wie ihr wisst, wurde der Talon von der Tempelgarde Shions, des schwarzen Löwen, gefangen genommen. Und das zu der Zeit, als Shion sein uraltes Ritual abhielt …«
    Während der Alte mit weit ausholenden Gesten die folgenden Ereignisse um die Gefangenschaft, die Flucht und den Kampf beschrieb, wuchs die Zahl der Zuhörer um ihn herum weiter an. Auch wenn das Dorf bereits über vier Fernseher verfügte, machte es den Menschen nach wie vor Freude, den wenigen Geschichtenerzählern zuzuhören, die das Land noch durchstreiften. Und der alte Mann hoffte natürlich, dass etwas Geld oder zumindest ein wenig Verpflegung für ihn abfiel.
    »… dann, am nächsten Morgen, sah der Talon dem Auszug der Löwen zu«, fuhr der Alte fort.
     
    Eine endlos wirkende Reihe gedrungener Körper zog aus dem Schlund der Tempelfestung davon. Sie folgten einem breiten Pfad, der das grüne Meer des Dschungels durchschnitt. Die Überreste längst zerfallener Säulen säumten den Weg. Vereinzelt ragten die steinernen Spitzen zwischen den Blätterkronen der schlanken Bäume empor.
    Talon lehnte sich auf die Brüstung weit über dem Urwald und sah den Tieren mit einem ausdruckslosen Blick nach. Jede Faser seines Körpers schien von einem Feuer erfüllt zu sein, das nicht erlöschen wollte. Die Wunden, die seine Haut bedeckten, waren von Shions Wächtern gut versorgt worden. Dennoch brannten sie unaufhörlich und erinnerten ihn an die zurückliegenden Tage.
    Er reckte den Kopf in die Höhe. Der Himmel war erfüllt von einem pastellfarbenen, orangeroten Ton, nur gelegentlich unterbrochen von langen Wolkenbändern, die träge dahinzogen. Ab und zu jagte der schlanke Schatten eines Vogels durch die Luft, ein lang gezogenes Krächzen nach sich ziehend.
    »Shion will dich sehen«, wurde er in seinen Betrachtungen unterbrochen.
    Nur langsam wandte sich Talon um. Einige Meter von ihm entfernt stand eine der Wachen des Löwen. Jeder dieser Männer überragte Talon mindestens um einen halben Kopf. Er konnte die offene Abneigung in den Augen deutlich erkennen. Nur widerwillig hatten die Wächter seinen Sieg über Shion akzeptiert. Doch keiner von ihnen hatte es gewagt, etwas zu unternehmen, was sein Leben oder das seiner Begleiterinnen gefährdet hätte.
    Er wandte sich wieder um und sah den Löwen nach.
    »Habt ihr die Frauen nach Hause gebracht?«, beendete er seine Gedanken.
    »Ja, wie du es befohlen hast«, folgte die kurze Antwort. Nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, wo sich der Tempel befand, hatte er veranlasst, dass die beiden Frauen in eine Safari-Lodge gebracht wurden, von der aus sie nach Kitale, der größten Stadt in dieser Region, reisen konnten. Er hatte sie nach dem
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