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Dunkelziffer

Dunkelziffer

Titel: Dunkelziffer
Autoren: Arne Dahl
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blitzschnell.
    Inzwischen hatte er es gelernt.
    Während er wartete - ohne sich eine einzige Sekunde zu entspannen -, kehrte er zu seiner Überlegung zurück. Er war nicht sicher, ob er je eine Antwort bekommen würde, aber die Fragen reichten weit. Er durfte nie aufhören, sie zu stellen.
    Kann man das Leben zurückerobern? Wie viel Schlimmes darf man anderen angetan haben und dennoch weiterleben? Wann ist die Zeit, die unaufhaltsam vergeht, etwas anderes als ein Leben? Gibt es eine Möglichkeit zu sagen, dass man jetzt den Punkt erreicht hat, wo man wieder das Recht hat zu leben? Und hat man dann eine Vorstellung davon, was es heißt zu leben? Kann man, wenn man das Leben einmal verlassen hat, zum Leben zurückkehren?
    Es war früher Sommer. Vor seinen Augen wurde gespielt, geklettert, gerannt, geschrien, gesprungen, hinter dem Zaun der Kindertagesstätte. Diese farbenfrohe Bewegung. Dieses Leben.
    Dieses aufsprießende Leben.
    Sein eigenes Leben bestand nunmehr aus Aufträgen. Die Zeit, die neben den Aufträgen verfloss, war nicht der Rede wert, aber immerhin konnte er inzwischen von sich sagen, dass er lebte, zumindest während der Aufträge.
    Ein zwischenzeitliches Leben.
    Das war mehr, als die meisten für sich in Anspruch nehmen konnten.
    Man kann die Zeit mit einem Strom vergleichen. Oder warum nicht mit einem Fluss? Er fließt. Er fließt immer. Aber manchmal ist Hochwasser, da fließt er schneller. Manchmal ist Niedrigwasser, da fließt er langsamer.
    Jetzt war Niedrigwasser. Hochwasser war gestern.
    Ein abwechslungsreiches Leben, dachte er und lachte.
    Ein Glück, dass niemand das Lachen hörte.
    Dann wieder Hochwasser.
    Er hatte den Wagen noch nie gesehen, dennoch begriff er sofort, dass es der war, der langsam die Straße entlanggerollt kam. Es war etwas an der Art zu fahren. Eine spähende Art zu fahren.
    Es war glasklar.
    Er öffnete das Handschuhfach und holte die Schnur heraus. Sie legte sich wie ein Vogelnest in seine rechte Hand. Die linke Hand ruhte noch auf dem Lenkrad.
    Er betrachtete sie und dachte: Ich habe einen Teil meines Lebens abgeschnitten. Aber ich muss die ganze Zeit daran erinnert werden, dass ich es getan habe. Wenn ich es vergesse, habe ich alles verwirkt. Und viel, viel mehr dazu.
    Als der Wagen anhält, versteht er, dass es so weit ist.
    Jeden Moment ist es so weit.
    Er nimmt das bunte Gewimmel dort drinnen wahr. All das Leben.
    Das Leben in spe.
    Er macht trotz allem einen Unterschied.
    Eines der Kinder ist vorn am Zaun. Es bewegt sich sanftmütig und neugierig an den Stäben des Zauns entlang. Es flimmert vorbei.
    Es ist ein einsames Kind.
    Als die Wagentür dort draußen sich öffnet, tritt der Fluss über die Ufer.
    Er erreicht die Stromschnellen.
    Der Mann nimmt die linke Hand vom Lenkrad, führt sie in das Vogelnest ein und zieht. Zieht mit beiden Händen.
    Ein spröder, aber klarer Ton ist zu hören, als die Leine sich zwischen seinen Händen spannt.
    5
    Sie hätte es einem anderen überlassen können. Sie war ja die Chefin. Es war erlaubt, Aufträge zu delegieren. Sogar angeraten.
    Aber in der Kampfleitzentrale - dem kleinen Konferenzraum im Polizeipräsidium - kam sie zu einem Entschluss.
    Es war kurz nach vier Uhr nachmittags am Montag, dem vierzehnten Juni. Kriminalkommissarin Kerstin Holm überblickte die restliche Schar der A-Gruppe, die gerade Platz nahm.
    Da war Arto Söderstedt, unverändert und unvergleichlich, da war Viggo Norlander, erschöpft vom Hüten kleiner Kinder, da war Jorge Chavez mit diesem neuen, leicht gequälten Gesichtsausdruck, und da war Jon Anderson, freier und froher denn je.
    Nein, dachte sie ganz kurz. Ihr taugt nicht dafür. Ihr Kerle.
    Wie idiotisch, dass sie die beiden Frauen der Gruppe nach Ängermanland geschickt hatte. Die dezimierte A-Gruppe hatte gerade Platz genommen, das Geplauder verstummte, die Aufmerksamkeit richtete sich auf sie, als sie plötzlich aufstand und sagte: »Nein, so geht das nicht.«
    Sie starrten sie an.
    »Übernimm du die Runde, Arto«, fuhr Kerstin Holm fort, während sie ihre eben ausgepackten Papiere wieder in die Schultertasche stopfte. »Ich muss nach Hammarby Sjöstad.«
    Dann war sie verschwunden.
    Was folgte,war eine fast greifbare Verwirrung, eine Handlungslähmung.
    Die Katze verschwand, und den Mäusen blieb die Luft weg.
    Schließlich räusperte sich Arto Söderstedt und sagte in seinem Finnlandschwedisch, das nicht ganz so rein klang wie sonst: »Welche Runde?«
    Worauf sich die Schar zerstreute und
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