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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dennoch für niemanden außer den beiden verständlich?
     
    »Erst willst du rausspringen, und dann muss man dich mit Gewalt raussetzen! Wir sind da! Aussteigen!«, rief der Fahrer. Mitja kam zu sich und sah, dass der Bus mitten in einem großen Dorf stand, dass die Tür offen war und ein weißer Schmetterling jeden Moment hereinfliegen würde.
    Mitja setzte die Füße auf den Boden und klappte seinen langen Körper wie einen Zollstock Glied für Glied auseinander.
    »He, Mann, zu wem willst du überhaupt?«, bohrte der Fahrer nach, ein weißblonder Bursche in Badelatschen und unterhalb der Knie abgeschnittenen Sporthosen, dem Mitjas ungeklärte Identität offenkundig keine Ruhe ließ. »Zu den Dummen? Oder zu Vater Konstantin?«
    »Wieso?«, fragte Mitja verständnislos.
    »Na, weil nur zu denen Fremde kommen. Wer zu jemand anders will, die kenne ich alle.«
    »Was denn für Dumme?«, fragte Mitja weiter, statt direkt zu erklären, wer er war und was er hier wollte.
    »Da hinten, einmal quer übers Feld, ist unser Dummendorf«, erklärte er. »Da kümmern sich Ausländer um unsere Psychos. Die haben sie aus verschiedenen Heimen zusammengeholt und wischen ihnen nun den Rotz ab. Für ohne Geld. Darum nennen wir das so – Dummendorf. Dumme kümmern sich um andere Dumme. Heilige Irre um pathologische Irre. Ich bin übrigens Wowa.«
    Der junge Mann hatte sich so übergangslos vorgestellt, dass Mitja nicht gleich begriff, warum er ihm die ölverschmierte Hand hinhielt.
    »Sehr angenehm. Mitja«, sagte er, stockte aber sofort: Sollte er sich der Seriosität halber nicht lieber mit Namen und Vatersnamen vorstellen?
    »Und, was willst du hier?«, fragte Wowa ungeduldig, weil er sah, dass der dürre Lulatsch partout nicht kapierte.
    »Ich will mich als Lehrer versuchen«, murmelte Mitja und hätte um ein Haar gefragt: »Gibt es bei euch eine Schule?«, besann sich aber rechtzeitig, dass das ziemlich dumm wäre.
    »Du drückst dich vor der Armee, ja?!«, fragte Wowa freudig, weil er nun endlich eine begreifliche Erklärung für Mitjas Auftauchen gefunden hatte. »Also, ich hab gedient. Und war sehr zufrieden. Ich hab die Obrigkeit kutschiert. Der General hat mir sogar angeboten zu bleiben, als sein persönlicher Chauffeur. Aber ich Idiot bin zurückgekehrt. Ich hab ’ne Braut hier. Das heißt – gehabt. So ein Miststück!«
    Wowa spuckte in den Staub und verwischte die Spucke wie wild mit seinem Gummischlappen. Mitja wollte sagen, dass er schon ein Jahr drüber war und sich nicht mehr vor der Armee drücken musste, ließ es aber. Hätte er denn eine klare Antwort gewusst – nicht für Wowa, nein, auch für sich selbst –, warum er hier war, in diesem Dorf, von dem er nicht mal wusste, wie es hieß?
    »Und jetzt kutschiere ich alte Weiber auf den Markt. Dabei hätt ich einen General fahren können!«, klagte Wowa weiter. »Na schön, komm, ich zeig dir die Schule. Aber die ist jetzt sowieso zu.«
    »Warum?«
    »Na, ist doch Sommer! Ferien.«
    Den ganzen Weg zur Schule beschimpfte sich Mitja für seine hoffnungslose Unbeholfenheit. Das gibt’s doch nicht! Als Lehrer arbeiten wollen und ganz vergessen, dass nicht nur an der öden Uni jetzt Ferien sind, sondern überall auf der Welt. Selbst in Australien! Und in Madagaskar! Und in Peru! Die geografische Perspektive verlieh Mitjas Gedanken eine besondere Bitterkeit, weil sie seinem Irrtum gleichsam eine globale Dimension verlieh.
    Auf einer Holzbrücke über einen kleinen Fluss drängten sich sonnengebräunte Jungs mit ihren Angeln.
    »Wenn wir uns beschweren, kriegen wir es bloß noch dicker!«, riefen sie einander zu, als stünden sie an verschiedenen Ufern.
    Als sie Mitja entdeckten, verstummten sie alle gleichzeitig und schauten zu, wie er ging. Dem Jüngsten, der nichts anhatte außer einem schräg aufs Ohr gerutschten Panamahut, blieb der Mund offen stehen.
    In Mitja lösten sich vor Verlegenheit sämtliche Scharniere, die seinen langen Körper zusammenhielten: Die Beine knickten in die falsche Richtung ein, die Arme schlenkerten unrhythmisch hin und her, das Gesicht verlor überhaupt jeden Halt und konnte keinen einzigen Ausdruck fixieren.
    »Tach!«, brüllten die Jungs, als Mitja die Brücke betrat.
    »Mach den Mund zu, Kleiner, sonst fliegen noch Mücken rein!«, erwiderte Wowa, schrecklich stolz darauf, dass nur er wusste, wer Mitja war und was er hier wollte.
    Der Junge mit dem Panamahut fing sich und klappte den Mund wieder zu.
    »Guten Tag«, murmelte Mitja und
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