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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einleuchtenden, leicht zu erklärenden Geruch verströmt – nach Dung, gemähtem Gras und Gemüsekraut auf den Beeten.
    Doch als Mitja versuchte, die Luft dieses Gartens in ihre Bestandteile zu zerlegen, geschah etwas, das ihn vollends verwirrte. Ja, die Blumen, von denen er viele zum ersten Mal im Leben sah, rochen süß und intensiv, aber das war es nicht.
    Mitja atmete ein und aus, und ihn überkam die seltsame Überzeugung, dass es in diesem Garten nach Zeit roch, nach Verwandlung und nach Ewigkeit. Und zwar genau in dieser Reihenfolge.
    Zuerst die Zeit: Das leuchtende und unvergängliche Wesen der Vergangenheit, die prallen Saatkörner der Zukunft und darin – mächtige Bäume, die besonders schön waren, weil es sie vielleicht nie geben würde. Hier verschmolzen Mitjas eigenes Leben, die Geschichte der Menschheit und das geologische Gedächtnis des Planeten. Plötzlich wurden mit einem gewaltigen Ruck die Grenzen zwischen war und wird , zwischen ich und nicht ich durchbrochen. Und alles wurde zu allem.
    Mitja stolperte über eine Gießkanne und wäre beinahe Jewdokija vor die Füße gefallen, die dem alten Mann schüchtern das Auftauchen des Untermieters erklärte. Mitja schüttelte sich, sog noch einmal tief die Luft ein und spürte erleichtert, dass es nur nach Blumen roch. Er schaute sich um.
    Auf der Treppe stand außer dem Alten und Jewdokija, die miteinander redeten, noch eine kleine alte Frau. Trotz des warmen Wetters trug sie Filzstiefel und eine Wattejacke, die sie allerdings nicht ganz zugeknöpft hatte. Die Alte sah Mitja an, ihr Kopf zitterte leicht, und sie lächelte. Von ihren Augen liefen tiefe Falten in alle Richtungen, wie Strahlen von Kinderhand gezeichneter Sonnen. Mitja lächelte zurück. In diesem Augenblick schaute der Alte zu ihm und nickte sogleich zu Jewdokija hin, als habe Mitjas Lächeln alles entschieden.
    »Na komm, liebes Kind, du musst erst mal was essen nach der Fahrt«, wandte sich die Alte sofort ihm zu. »Komm rein, komm rein. Mit Jewdokija kannst du später noch genug reden.«
    Mitja betrat das Haus und sah nach dem hellen Sonnenlicht ein paar Sekunden lang überhaupt nichts. Tastend ließ er sich auf einen Stuhl nieder und erriet an dem satten Dampf, der ihm in die Nase stieg, dass schon ein Teller Kohlsuppe vor ihm stand.
    »Ich heiße Fima, und mein Alterchen auch«, sagte die alte Frau, während sie einen grauen Aluminiumlöffel mit einem Handtuch abwischte.
    »Wie das?«, staunte Mitja.
    »Er heißt Jefim, ich Serafima.«
    »Was für alte Namen.«
    »Wir sind ja auch schon lange auf der Welt. Fim ist noch unterm Zaren geboren. Ich schon unter Lenin.«
    »Wie alt sind Sie denn?«
    »Fim hat letzten Winter seinen Neunzigsten gefeiert. Und ich werde, so Gott will, im September fünfundachtzig. So, junger Herr, nun iss.«
    Nach dem Essen zeigte Serafima Mitja die Treppe zum Dachboden, wo sie ihm einen Schlafplatz eingerichtet hatte. Mitja stieg hinauf, stieß im Dunkeln heftig mit dem Kopf gegen einen Deckenbalken, wich zurück, stolperte, rutschte von der Stufe ab, klammerte sich mit den Händen fest und zappelte mit den Beinen in der Luft.
    »Du meine Güte!«, stöhnte die Alte, die den Tisch abräumte.
     
    Aber Mitja fing sich wieder und kletterte in seine Kammer , wie sich Fima ausdrückte. Dort oben war alles so klein, dass er sich fühlte wie ein unglücklicher Riese in einer Zwergenbehausung. Er konnte sich nicht zu voller Größe aufrichten, nur zusammengekrümmt sitzen oder auf dem Strohballen liegen, den ein handgewebter Läufer bedeckte. Mitja ertappte sich plötzlich bei einem seltsamen Gefühl. Er hatte schon oft, vor allem als Kind, in Büchern von so einem Leben gelesen, es aber noch nie selbst gesehen. Und nun, da es ihn unversehens auf einen ländlichen Dachboden verschlagen hatte, befand er sich in einer Welt, die ihm bis in alle Einzelheiten vertraut schien.
     
    Alles war da – Kräuterbündel, zum Trocknen in ordentlichen Reihen zwischen die Dachbalken gehängt, schräge Sonnenstrahlen, in denen wie verzaubert Staubkörnchen tanzten, und der Teergeruch des von der Sonne erhitzten Dachs.
    Mitja schaute aus dem kleinen runden Fenster, das er natürlich auch wiedererkannt hatte. Das Dorf Mitino lag an einen Berghang hingestreut, links leuchtete weiß ein Glockenturm, rechts stand inmitten von Kohlbeeten die Schule, im Schatten der Gartenzäune dösten friedlich Hunde, alle viere von sich gestreckt, zwischen kleebedeckten Wiesen schlängelte sich ein
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