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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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heraus.
    Aus seinen Worten ging hervor, dass sich Sanja in der verlassenen Rinderfarm versteckte. Das hatte er in Sanjas letztem Brief an Angelique gelesen, den er ihr auf ihr ausdrückliches Geheiß nicht übergeben hatte.
    »Her damit«, verlangte der Milizionär ausdruckslos.
    »Ich hab ihn n-nicht mehr«, murmelte der Fünftklässler stotternd.
    »Wo ist er?«
    »Ich hab ein Schiffchen draus gefaltet.«
    »Bist du blöd?«
    »Sie hat gesagt, das soll ich machen.«
     
    Eine halbe Stunde später war der bis auf die Knochen durchnässte Sanja gefangen, verhört und in Hausarrest gesperrt.
    »Dein Wohlfahrtsinstitut hier mache ich trotzdem zu«, rief die Kreisschulchefin, als sie in das Milizauto einstieg. »Ich habe dich gewarnt: bis zum ersten Zwischenfall! Schreib eine Kündigung auf eigenen Wunsch und einen Versetzungsantrag!«
    Jewdokija stand auf der Schultreppe und weinte wie ein kleines Mädchen, das einen Verweis bekommen hat.
     
    Endlich wieder zu Hause, schlüpfte Mitja auf den Dachboden, verkroch sich in einer Ecke und wäre am liebsten ganz verschwunden. Er hatte zu nichts mehr Kraft. Nicht zum Freuen, nicht zum Trauern und nicht zum Nachdenken. Er wiegte sich vor und zurück und blickte stumpfsinnig vor sich hin, in die sich verdichtende Dämmerung.
    Plötzlich hämmerte jemand mit voller Kraft gegen die Tür.
    Von unten drangen erregte Stimmen herauf, unter denen er Wassenkas brüchigen Tenor ausmachte.
    »Was ist denn nun noch passiert?«, stöhnte Mitja und kroch vom Boden herunter.
    »Dummendorf ist abgebrannt!«, keuchte der Überbringer der schlechten Nachricht.
    Das Ganze wiederholte sich, wie in einem Alptraum. Wieder rannte Mitja die Straße entlang, hinter ihm lief Wassenka und berichtete hastig:
    »Die Ausländer haben sie schon heute früh festgenommen und die Psychos haben sie ins Heim gebracht, aber wer das Dorf angezündet hat, weiß ich nicht. Ich hab von der Rinderfarm aus das Feuer gesehen. Ich dachte erst, ich bilde mir das nur ein. Ich bin hingelaufen, und da war nur noch Nastja. Ich glaube, sie ist verrückt geworden. Meine Mama sagt schon lange: Jedes Dorf braucht seine Verrückte. Und unsere ist ja gestorben. Jetzt kriegen wir dafür Nastja.«
    Mitja blieb abrupt stehen und musste sich sehr beherrschen, um dem Schwätzer keinen kräftigen Stoß zu versetzen.
    »Lauf, hol Vater Konstantin«, zischte er.
    Wassenka biss sich auf die Zunge und rannte zur Kirche.
     
    Er sah Nastja schon von weitem. Sie trug ein weißes, geblümtes Nachthemd, das sich deutlich von den verkohlten Wänden abhob. Sie lief hin und her, wie ein Pendel, und bewegte die Lippen. Als Mitja nahe genug war, hörte er, dass sie unablässig ein und denselben Satz murmelte:
    »Liebt die, die euch hassen, betet für die, die euch kränken …«
    »Nastja«, rief er unsicher.
    Sie hörte ihn nicht, schlug die Hände vors Gesicht und ging in die rauchenden Ruinen.
    »Liebt die, die euch hassen …«, drang es aus der Dunkelheit zu Mitja, und ihm wurde unheimlich zumute.
    Da kam Vater Konstantin angelaufen, er holte Nastja aus der Brandstätte, legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern und führte sie in Richtung Dorf. Die beiden Gestalten lösten sich rasch in der grauen Dunkelheit auf, doch Nastjas Stimme tönte weiter, als würden selbst die kümmerlichen Äcker und die kargen Waldstreifen wiederholen:
    »Betet für die, die euch kränken …«
    Um das Trugbild abzuschütteln, lief Mitja ihnen nach. Doch er konnte sie nicht einholen. Schließlich tauchte am Straßenrand eine Silhouette auf.
    Auf hohen Absätzen immer wieder umknickend, kam ihm dieselbe Frau im Mantel entgegengestolpert, die er am Tag seiner Ankunft gesehen hatte. Sie verschmierte schwarze Tränen über ihr ganzes Gesicht.
    »Junger Mann«, rief sie ihm zu.
    Mitja blieb stehen und rückte seine Brille zurecht.
    »Wie komme ich zur Bibliothek?«, witzelte sie.
    Und brach lauthals in heiseres Lachen aus.

ANMERKUNGEN DER ÜBERSETZERIN
    S. 9 Iudino, Kulebjakino … sprechende Namen: Iudino, abgeleitet von Judas; Kulebjakino von Kulebjaka (dt. Pastete), Kurojedowo: etwa: »Hühneresserdorf«; Pustoje Roshdestwo: »leere Geburt« ( roshdestwo : dt. Weihnachten).
    S. 9 Russkaja prawda altrussischer Rechtskodex, 13.-15. Jahrhundert; Programmpapier der Dekabristen, in dem die Abschaffung der Leibeigenschaft gefordert wird, 1823 verfasst von Pawel Pestel.
    S. 18 Mitino Adjektiv von Mitja, soviel wie: Mitjas.
    S. 26 Iljitsch-Lämpchen Glühlampe,
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