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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition)
Autoren: James Joyce
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verrostete Fahrradpumpe des verstorbenen Mieters. Er war ein sehr wohltätiger Priester gewesen; in seinem Testament hatte er sein Geld verschiedenen Heimen vermacht und seiner Schwester die Hauseinrichtung.
    Als die Wintertage kürzer wurden, war es schon dämmrig, bevor wir unser Abendessen beendet hatten. Wenn wir uns dann auf der Straße trafen, standen die Häuser düsterda. Das Stück Himmel über uns nahm immer neue Tönungen von Violett an, und ihm reckten sich die kraftlosen Straßenlaternen entgegen. Die Kälte war beißend, und wir spielten, bis unsere Körper über und über glühten. Unsere Rufe hallten in der stillen Straße wider. Im Verlauf unseres Spiels gelangten wir über die dunklen, aufgeweichten Pfade hinter den Häusern, wo uns die wilden Banden aus den ärmlichen Hütten zusetzten, zu den Gattern am hinteren Ende der dunklen, feucht tropfenden Gärten, wo Gestank aus den Abfallgruben aufstieg, und zu den stinkenden Ställen, wo ein Kutscher sein Pferd striegelte und kämmte oder die Schnallen am Zaumzeug melodisch klirren ließ. Wenn wir in die Straße zurückkamen, erfüllte das Licht aus den Küchenfenstern die Luftschächte vor dem Souterrain. Wenn jemand meinen Onkel um die Ecke kommen sah, versteckten wir uns im Schatten, bis wir ihn sicher im Haus wussten. Oder wenn Mangans Schwester auf der Türschwelle erschien, um ihren Bruder zum Essen zu rufen, dann beobachteten wir aus dem Schatten, wie sie die Straße hinauf- und hinunterspähte. Wir warteten ab, ob sie stehen blieb oder wieder hineinging, und wenn sie blieb, kamen wir aus dem Schatten hervor und gingen schicksalsergeben hinüber zu Mangans Haustür. Sie wartete auf uns, und gegen das Licht aus der halb geöffneten Tür sah man den Umriss ihrer Figur. Ihr Bruder neckte sie immer ein wenig, bevor er ihr folgte, und ich stand am Gitterzaun vor dem Haus und sah sie an. Ihr Kleid folgte den Bewegungen ihres Körpers, und ihr weicher Zopf schwang hin und her.
    Jeden Morgen lag ich auf dem Boden des vorderen Wohnzimmers und beobachtete ihre Tür. Die Jalousie war bis auf einen zwei Finger breiten Spalt über dem Fenstersims heruntergezogen, sodass man mich nicht sehen konnte. Wenn sie aus der Tür trat, machte mein Herz einen Sprung. Ich eilte in die Diele, griff meine Schulbücher undfolgte ihr. Ich behielt ihre braune Gestalt fest im Auge, und wenn wir uns der Stelle näherten, an der sich unsere Wege trennten, beschleunigte ich meine Schritte und überholte sie. Das wiederholte sich Morgen für Morgen. Ich hatte nie mit ihr gesprochen, abgesehen von ein paar beiläufigen Worten, und doch wirkte ihr Name wie eine gebieterische Einladung an all mein törichtes Blut.
    Ihr Bild begleitete mich sogar an Orte, die jeder Romantik zutiefst feind sind. An Samstagabenden, wenn meine Tante auf den Markt ging, musste ich mitkommen und einige der Pakete tragen. Wir gingen durch die flackernden Straßen, angerempelt von betrunkenen Männern und feilschenden Frauen, umgeben vom Fluchen von Arbeitern, den schrillen Litaneien von Ladenjungen, die bei Fässern mit Schweinebacken Wache hielten, dem näselnden Singsang von Straßensängern, die die Moritat von O’Donovan Rossa * vortrugen oder eine Ballade über das Leid unserer Heimat * . Diese Geräusche verschmolzen in mir zu einem einzigen Lebensgefühl: Ich stellte mir vor, meinen Kelch sicher durch eine Horde von Feinden zu tragen. Mitunter kam mir ihr Name in sonderbaren Gebeten und Hymnen, die ich selbst nicht verstand, auf die Lippen. Oft füllten sich meine Augen mit Tränen (warum, wusste ich nicht), und manchmal war es, als ob sich eine Flut aus meinem Herzen in meine Brust ergoss. Ich dachte selten an die Zukunft. Ich wusste nicht, ob ich je mit ihr sprechen würde, und wenn doch, wie ich ihr meine wirre Anbetung offenbaren sollte. Aber mein Körper war wie eine Harfe, und ihre Worte und Gesten waren wie Finger, die über die Saiten glitten.
    Eines Abends ging ich in das hintere Wohnzimmer, in dem der Priester gestorben war. Es war ein dunkler, regnerischer Abend, und im Haus regte sich nichts. Durch eine der zerbrochenen Fensterscheiben hörte ich, wie der Regen auf die Erde schlug und die Wassernadeln unablässigin den aufgeweichten Rabatten tanzten. Eine ferne Lampe oder ein erleuchtetes Fenster schimmerte irgendwo unter mir. Ich war dankbar, dass ich nicht viel sehen konnte. Meine Sinne schienen sich in Schleier hüllen zu wollen, und als ich spürte, wie ich ihnen entglitt, presste
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