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Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Titel: Du und ich und all die Jahre (German Edition)
Autoren: Amy Silver
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Während der letzten fünfzehn Jahre habe ich ihn vielleicht zwanzig Mal gesehen. Eine Zahl, die sich nicht mehr erhöhen lässt.
    Sei Julians Tod habe ich Aidan genau dreimal gesehen. An dem Tag, als ich davon erfuhr, bei der Beerdigung und dann noch einmal gestern. Gestern? War das wirklich erst gestern? Es kommt mir vor wie eine ganze Ewigkeit. Dreimal. Das reicht einfach nicht. Meine Tränen mischen sich mit Shampoo und Wasser, als ich mir die Haare wasche. Ich weiß jetzt, was ich tun muss, und es bricht mir das Herz.

    Ich ziehe Jogginghosen an, eine alte Fleecejacke und dicke Socken. Dann gehe ich runter, um mit Dom zu reden. Doch er ist weder in seinem Arbeitszimmer noch in der Küche. Ich schaue aus dem Fenster. Sein Wagen ist weg. Plötzlich bekomme ich Panik. Wo steckt er? Ist er abgehauen? Ich rufe auf seinem Handy an – Mailbox. Ich will schon nach oben rennen und nachschauen, was er alles eingepackt hat, da fällt mir ein, dass er vielleicht nur Milch und die Zeitung holt. Immerhin denkbar, dass unser Kiosk Neujahr geschlossen hat.
    Ich sitze am Küchentisch, habe Angst, bin unglücklich und trinke Fencheltee. Ich hasse Kräutertees, aber in so einem Moment braucht der Mensch einfach etwas Warmes zu trinken, und mehr haben wir nicht im Haus. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die tatsächlich nur eine halbe Stunde gedauert hat, höre ich draußen den Wagen vorfahren. Dom steigt aus, macht den Kofferraum auf und lässt die Hunde ins Freie.
    Ich laufe zur Hintertür, reiße sie auf und breite die Arme aus. Mick und Marianne springen aufgeregt an mir hoch.
    «Ich dachte, du freust dich über die beiden, wenn du wach bist», sagt Dom, und ich muss wieder weinen. «Deshalb bin ich rüber zu Matt gefahren und habe sie abgeholt.» Und er hat nicht nur die Hunde mitgebracht, sondern auch Tee, Milch, Brot und den leckersten Käse der Welt aus dem kleinen Hofladen ganz in der Nähe von Matt. Wir setzen uns an den Küchentisch, essen Käse-Sandwiches und trinken dazu riesige Becher starken Tee. Nachdem die Hunde mehrfach auf Patrouille waren und alles zu ihrer Zufriedenheit vorgefunden haben, haben sie sich beruhigt und liegen auf ihren Lieblingsplätzen. Marianne an der Heizung im Flur und Mick zu meinen Füßen. Der Gedanke daran, das alles bald hinter mir zu lassen, macht mir Angst.
    Dom ahnt das offenbar.
    «Wenn hier erst mal alles geregelt ist», er trinkt einen Schluck, «also die Beerdigung und der Papierkram mit dem Nachlass deines Vaters, solltest du deine Zelte abbrechen. Geh nach Libyen, New York, tu, was du tun musst.»
    «Ich will dich nicht verlassen», sage ich mit erstickter Stimme.
    «Doch, willst du. Das spürst du nur gerade nicht so doll, weil dein Vater gestern gestorben ist und du dich deshalb einsam fühlst und Sicherheit brauchst. Aber in gar nicht allzu langer Zeit, nämlich in ein paar Monaten schon, hältst du es wieder nicht mehr aus, dann wird dir diese Sicherheit zum Korsett. Und es geht wieder von vorne los. Das will ich nicht noch einmal alles mitmachen.» Auch er klingt traurig. Der Schmerz, der mich eben unter der Dusche fast überwältigt hat, wird noch größer und droht mich zu verschlingen. Dom steht auf, geht um den Küchentisch herum und setzt sich neben mich. Dann umarmen wir uns.
    «Die Hunde bekommen einen Reisepass, falls du in New York wohnen möchtest, und dann teilen wir uns das Sorgerecht. Sechs Monate du, sechs Monate ich. Irgendwie werden wir das schon regeln», murmelt er. «Uns fällt bestimmt etwas ein. Wir verlieren uns nicht völlig, wir bleiben in Kontakt.»
    «Versprochen?», frage ich.
    «Ja, versprochen.»

    In der Dämmerung bin ich mit den Hunden zum Common unterwegs. Die beiden laufen vor mir her und springen begeistert auf und ab, weil das ihr Lieblingsspaziergang ist. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mit den beiden an der Leine einen New Yorker Bürgersteig entlangmarschiere. Es will mir nicht richtig gelingen. Dann stelle ich mir vor, wie ich bei Zeitgeist Productions arbeite und nur ein paar Meter von Aidan entfernt an meinem Schreibtisch sitze. Oder wie ich in Alex’ kleiner Wohnung auf der Couch schlafe. Und ich male mir aus, wie es sein wird, wieder Single zu sein. Unverheiratet.
    Das ist aufregend, aber macht mir auch Angst. Nicht nur weil es der Aufbruch ins Unbekannte wird oder ich gerade ein Leben für ein anderes aufgebe. Nein, weil ich mich zwischen Dominic und meinen alten Dämonen entscheiden muss. Sind es wirklich Dämonen?
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