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Du stirbst zuerst

Du stirbst zuerst

Titel: Du stirbst zuerst
Autoren: Dan Wells
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und die Gesichter sind bandagiert. Erschrocken blicke ich Ellie an. Sie nickt.
    »Schön, nicht wahr?«
    Ich trete an eine winzige Wiege. Das Kind ist höchstens einige Monate alt. An der Seite hängt ein Kärtchen: Mary. Zitternd strecke ich die Hand aus und berühre die Kleine leicht am Arm. Unter dem durchsichtigen Klebeband, welches das Ärmchen fixiert, spannt sich die Haut und wirft Falten. Über dem Kind wacht drohend der Infusionsständer, einer von hundert, die wie stumme Soldaten in einer Reihe stehen.
    Hinter mir flackert es, als Ellie eine Laterne anzündet. »Die Infusionen waren eine äußerst erfolgreiche Ergänzung«, erklärt sie mir. »Wenn nötig, können wir die Kinder jahrelang unter Medikamenten halten, aber gewöhnlich wenden wir diese Behandlung immer nur für eine Woche an. In Abwesenheit von äußeren Reizen kann sich der Geist schneller anpassen. Emotionen sind besonders problematisch, und diese Vorgehensweise hilft ihnen, die schädlichen Einflüsse aufzuheben. Trotzdem, ohne regelmäßige Bewegung degenerieren die Körper.« Sie schüttelt den Kopf. »Das ist ein bedauernswerter Mangel, den wir jedoch in Kauf genommen haben, als wir diesen Weg einschlugen.«
    Ich nicke und versuche, ruhig zu atmen und mir nichts anmerken zu lassen, während ich innerlich vor Wut und Entrüstung koche. Wie können sie nur so etwas tun? Ich deute auf Marys bandagierten Kopf.
    »Was ist mit den Gesichtern?«
    »Ein leichter Druck auf das Gesicht scheint den Übergang zu erleichtern. Heute schlafen die meisten von uns mit Masken. Wenn du willst, kannst du den Verband abnehmen, aber dort ist noch nichts zu sehen – nur ein hässliches menschliches Gesicht.«
    Wieder nicke ich und kämpfe meine Gefühle nieder. Ich stelle mir vor, wie ich selbst als Kind in einer solchen Wiege liege, wie ich schreie und wimmere, während die Polizei sich draußen mit einem Killer einen Schusswechsel liefert und während drinnen eine Mutter nacheinander die Kinder tötet. Ein Messerstich, das Blut spritzt, weiter zur nächsten Wiege. Es ist ein Albtraum, den ich hundertmal hatte, seit ich die Wahrheit über meine Geburt erfuhr.
    Dies ist das erste Mal, dass ich Mitgefühl mit der Mörderin empfinde.
    Ich entferne mich von der Wiege, bin viel zu aufgewühlt, um das Kind noch länger zu betrachten. Sie vernichten die Kinder, pflanzen ihnen etwas ein, um das Bewusstsein zu verdrängen und die Körper zu übernehmen. Sie zu töten wäre eine Gnade – aber schon der Gedanke daran, die Vorstellung, so etwas kaltblütig aus­zuführen, zwingt mich, innezuhalten und mich an der Wand abzustützen. Mir ist schwindelig und übel. Ich will aufschreien, weinen und weglaufen. Ich will Ellie niederwerfen, die Lampe zertrümmern und die Kinderkrippe in Brand setzen. Ich will mich in einem Loch verkriechen und nie wieder hervorkommen.
    »Geht es dir nicht gut?«
    Mörder!, schreie ich innerlich. Das habt ihr auch mir angetan! Nein, sie war es nicht – es war Doktor Vanek. Er hat damit angefangen, er hat es mir angetan, er ist mir in den Kopf gekrochen, wie man die Finger in eine Handpuppe schiebt. Jetzt will er wieder heraus.
    »Ambrose?«
    Mit feuchten Augen sehe ich Ellie an. Ich wische mir die Tränen weg – und muss sie erklären. »Es ist nur …« Ich schlucke die Übelkeit hinunter. »Ich hätte nie erwartet, dass wir so weit kommen, und das in so kurzer Zeit.« Die Worte klingen mir hohl und dumm in den Ohren. Ich erinnere mich an Ellies Eifersucht und fahre fort. »Du hast hier unglaublich viel geleistet. Mehr, als ich je vermocht hätte.« Ich ringe mir ein Lächeln ab und kämpfe den Abscheu nieder. Wie kann ich nur so mit ihr reden? Wie kann ich neben hundert gequälten Kindern stehen? Was kann ich überhaupt tun?
    Sie nickt. »Danke, Ambrose. Aber das Lob gebührt nicht mir allein. Ohne deine Forschungen hätten wir keine Grundlage, auf der wir aufbauen könnten.«
    Ich sehe mich noch einmal um und verdränge den Gedanken an die stummen, hilflosen Kinder und an meinen Beitrag zu ihrem Elend. »Was kommt als Nächstes?«
    »Phase vier.«
    Ich nicke. »Natürlich.« Ich muss mehr herausfinden und einen Weg finden, diesen Leuten das Handwerk zu legen. Lächelnd wende ich mich an Ellie. »Ich hoffe, ihr habt auch in dieser Hinsicht meine Pläne verbessert …«
    Jäh halte ich inne und lausche. Im hinteren Teil der Kinderkrippe ist ein Geräusch zu hören. Ein langsames, feuchtes Schleifen. Das Geräusch kenne ich. Ich versuche, an
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