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Dshamila

Dshamila

Titel: Dshamila
Autoren: Tschingis Aitmatow
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üblichen Fragen nach Gesundheit und Wohlbefinden der Aksakale und der näheren Verwandten, und erst ganz zum Schluß, wie in größter Eile hinzugefügt, fand sich der Satz: „Und auch meiner Frau Dshamila sende ich einen Gruß."
    Wenn Vater und Mutter, Aksakale und die nächsten Verwandten im Ail lebten, dann war es nicht üblich, ja sogar anstößig, die Frau als erste zu nennen oder gar einen Brief an sie zu richten. So dachte nicht nur Sadyk, sondern jeder Mann, der etwas auf sich hielt; daran gab es nichts zu deuteln, das war eben so eingeführt im Ail, und niemand stieß sich daran, ja es fiel niemand auf, zumal jeder Brief ein ersehntes, freudiges Ereignis war, über das man alles andere vergaß.
    Die Mutter ließ sich jeden Brief mehrmals von mir vorlesen; dann nahm sie ihn mit frommer Rührung in ihre rauhen Hände und hielt ihn fest wie einen Vogel, der jeden Augenblick davonflattern könnte. Endlich faltete sie ihn mit ihren ungelenken Fingern umständlich wieder zusammen. „Ach, meine Lieben, wie einen Talisman werden wir eure Briefe hüten!" sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Da erkundigt er sich, wie es Vater, Mutter und den Verwandten geht. Was soll uns schon geschehen, wir sind ja zu Hause in unserem Ail. Aber ihr da draußen? Allein euer Schweigen tötet uns. Schreibt nur ein Wörtchen: Ich lebe, weiter nichts. Mehr brauchen wir nicht."
    Lange betrachtete die Mutter noch den Brief; dann steckte sie ihn in das Lederbeutelchen, in dem alle Briefe verwahrt wurden, und legte es in die Truhe. Wenn Dshamila gerade zu Hause war, gab man auch ihr den Brief zu lesen. Ich bemerkte, daß sie jedesmal errötete, wenn sie ein solches zum Dreieck gefaltetes Blatt in die Hand nahm. Sie las begierig, hastig die Zeilen überfliegend. Doch je näher sie dem Schluß kam, desto schlaffer wurden ihre Schultern, und ihre geröteten Wangen erblaßten. Sie zog die eigenwilligen Brauen zusammen und reichte den Brief, ohne die letzten Zeilen gelesen zu haben, so kühl und gleichmütig der Mutter, als gäbe sie etwas zurück, was sie geliehen hatte.
    Die Mutter legte Dshamilas Gebaren auf ihre Art aus und versuchte sie zu ermutigen. „Was hast du denn?" sagte sie, während sie die Truhe verschloß. „Statt dich zu freuen, läßt du den Kopf hängen! Hast denn nur du einen Mann bei den Soldaten? Du bist ja nicht die einzige, das ganze Volk leidet, ertrag es zusammen mit dem ganzen Volk. Denkst du vielleicht, es gibt welche, die sich nicht einsam fühlen, die sich nicht nach ihren Männern sehen? Du kannst dich ja grämen, aber du darfst es nach außen hin nicht zeigen! Verbirg's in deinem Inneren!"
    Dshamila schwieg. Doch ihr offener, trauriger Blick schien zu sagen: Ihr könnt mich nicht verstehen, Mütterchen!
    Der letzte Brief war, wie auch schon die vorherigen, aus Saratow gekommen. Dort lag Sadyk im Lazarett. Er schrieb, daß er, so Gott wolle, im Herbst wegen der Verwundung nach Hause kommen würde. Das hatte er auch schon früher mitgeteilt, und wir freuten uns alle auf das baldige Wiedersehen mit ihm.
    Ich blieb an jenem Tag doch nicht zu Hause, sondern fuhr auf den Druschplatz. Dort übernachtete ich gewöhnlich. Die Pferde brachte ich auf das Luzernefeld und fesselte sie dort. Der Vorsitzende hatte es verboten, das Vieh auf dem Luzernefeld zu weiden, doch damit meine Pferde kräftig blieben, übertrat ich das Verbot. Ich kannte eine verborgene Stelle in einer Mulde, und außerdem merkte nachts niemand etwas. Als ich aber diesmal die Pferde ausgespannt und auf das Feld geführt hatte, fand ich dort schon vier Pferde vor. Das empörte mich. Ich hatte schließlich einen zweispännigen Wagen zu kutschieren, und das gab mir das Recht, mich zu empören. Ohne lange zu überlegen, beschloß ich, die fremden Pferde wegzutreiben, um dem Frechling, der da in mein Revier eingedrungen war, eine Lehre zu erteilen. Da erkannte ich plötzlich zwei Pferde als die Danijars, des Mannes, von dem der Brigadier einige Stunden zuvor gesprochen hatte. Mir fiel ein, daß wir ja vom nächsten Tag an zusammen das Korn zum Bahnhof fahren sollten. Ich ließ seine Pferde in Ruhe und kehrte zum Druschplatz zurück.
    Hier fand ich Danijar. Er hatte eben die Räder seines Wagens geschmiert und zog jetzt die Muttern an den Achsen fest.
    „Danijar, sind das deine Pferde in der Mulde?" fragte ich. Danijar drehte langsam den Kopf.
    „Zwei davon."
    „Und das andere Paar?"
    „Die gehören... Wie heißt sie doch gleich... Dshamila, nicht?
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