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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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mir doch wichtig, zu bergen, was ich an Papieren finden
konnte, ehe irgendein wohlmeinender Angehöriger alles in den Müll warf. Ich
klopfte an die Haustür und wartete. Morley hatte nie sonderlich auf
Äußerlichkeiten geachtet, und das Haus machte einen ziemlich verlotterten
Eindruck. Die blaue Farbe des Geländers, ohnehin ungleichmäßig, blätterte ab.
Ich hatte das deprimierende Gefühl, alles genau zu kennen. Ich konnte mir das
muffige Interieur genau vorstellen: die gesprungenen Kacheln in der Küche, die
buckligen PVC-Fliesen auf dem Fußboden, die Auslegeware mit den Trampelpfaden,
wo sich der Dreck nicht mehr entfernen ließ, verzogene Alu-Fensterrahmen,
rostige Armaturen im Bad. Ein zerbeulter, grüner, viertüriger Mercury stand auf
dem Gras neben der Einfahrt. Ich identifizierte ihn gleich als Morleys Wagen,
ohne dass ich genau hätte sagen können, weshalb. Es war einfach die Art
Schrottkiste, die zu ihm passte. Er hatte den Wagen vermutlich schon zig Jahre
und hätte ihn sicher ohne zu zögern weiter gefahren, bis der Motor am Ende
gewesen wäre. In der Einfahrt stand ein neuer, roter Ford mit dem Namen einer
lokalen Autovermietung auf dem Nummernschild. Wahrscheinlich jemand von
außerhalb...
    »Ja?« Die Frau war klein, Mitte sechzig
und wirkte energisch und tüchtig. Sie trug eine rosageblümte, langärmlige
Bluse, einen Tweedrock, Strumpfhosen und Slipper. Ihr graues Haar war
unauffällig frisiert, ihr Gesicht nur leicht geschminkt. Sie trocknete sich die
Hände an einem Geschirrtuch ab und sah mich fragend an.
    »Hi. Mein Name ist Kinsey Millhone.
Sind Sie Mrs. Shine?«
    »Ich bin Dorothys Schwester, Louise
Mendelberg. Mr. Shine ist vorgestern gestorben.«
    »Das habe ich gehört, und es tut mir
Leid, dass ich Sie stören muss. Aber er hat zuletzt für einen Rechtsanwalt
Lonnie Kingman gearbeitet, und ich bin gebeten worden, den Fall zu übernehmen.
Komme ich gerade in einem ungünstigen Moment?«
    »Einen günstigen Moment gibt es wohl
kaum, wenn gerade jemand gestorben ist«, erwiderte sie spitz. Ich hatte eine
Person vor mir, die den Tod nicht ernstlich an sich heranließ. Sie würde zwar
immer kommen und den Abwasch machen und das Wohnzimmer aufräumen, aber
vermutlich nicht viel Zeit auf die Auswahl der Lieder für den
Trauergottesdienst verwenden.
    »Ich will Ihnen nicht unnötig zur Last
fallen. Es tut mir sehr Leid wegen Morley. Er war ein netter Mensch, und ich
mochte ihn gern.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe
Morley gekannt, seit er und Dorothy sich damals während der Wirtschaftskrise
auf dem College begegnet sind. Sicher, wir hatten ihn alle gern, aber er war ja
ein solcher Sturkopf. All die Zigaretten und sein Übergewicht und der viele
Alkohol. Man verkraftet das ja in einem gewissen Maß, solange man jung ist,
aber in seinem Alter? O nein, Ma’am. Wir haben ihn immer wieder gewarnt, aber
meinen Sie, er hätte auf uns gehört? Keine Spur. Sie hätten ihn am Sonntag
sehen sollen. Wie er aussah — fürchterlich. Der Arzt meint, die Grippe hat den
Herzanfall noch verschlimmert. Das Elektrolyten-Gleichgewicht oder sowas.« Sie
schüttelte wieder den Kopf und verstummte.
    »Wie geht es Ihrer Schwester?«
    »Nicht besonders, um ehrlich zu sein.
Deswegen bin ich ja ursprünglich von Fresno heruntergekommen. Ich wollte ein
paar Wochen aushelfen, um sie ein bisschen zu entlasten. Sie wissen ja wohl,
dass sie seit Monaten krank ist.«
    »Das wusste ich nicht«, sagte ich.
    »Aber ja, sie ist völlig am Ende.
Letzten Juni haben sie festgestellt, dass sie Magenkrebs hat. Sie hatte eine
große Operation und kriegt seither immer wieder Chemotherapie. Sie ist nur noch
Haut und Knochen und behält nichts mehr bei sich. Morley hat von nichts anderem
mehr geredet, und jetzt hat es ihn zuerst erwischt.«
    »Wird eine Autopsie gemacht?«
    »Ich weiß nicht, ob sie da was
veranlasst hat. Er war ja noch vor einer Woche beim Arzt. Dorothy wollte ja
schon immer, dass er Diät halten sollte, und er hatte sich endlich darauf
eingelassen. Unter den Umständen ist eine Autopsie nicht nötig, aber Sie wissen
ja, wie die Ärzte sind. Sie brennen darauf, zu schnippeln und zu stochern. Sie
tut mir so Leid.«
    Ich gab ein paar mitfühlende Laute von
mir.
    Sie machte eine brüske Handbewegung.
»Na ja, genug geredet. Ich nehme an, Sie sind gekommen, um sich sein
Arbeitszimmer anzusehen. Am besten, Sie kommen rein, und ich zeige es Ihnen.
Nehmen Sie ruhig mit, was Sie wollen, und wenn noch etwas ist,
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