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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens
Autoren: Stefan Zweig
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gestülpt, eine grobe Mütze aufgesetzt, die Gummischuhe angezogen, nichts anderes von seinem Eigentum mitnehmend, als was der Geist braucht, um sich der Menschheit zu übermitteln: das Tagebuch, Bleistift und Feder. Am Bahnhof kritzelt er noch einen Brief an seine Frau, sendet ihn heim durch den Kutscher: »Ich habe getan, was Greise meines Alters gewöhnlich tun, ich verlasse dieses weltliche Leben, um meine letzten Lebenstage in Abgeschiedenheit und Stille zu verbringen.« Dann steigen sie ein, und auf der schmierigen Bank eines Dritte-Klasse-Wagens sitzt, in den Mantel gehüllt,nur von seinem Arzt
    begleitet, Leo Tolstoi, der Flüchtling zu Gott.
    Aber Leo Tolstoi, so nennt er sich nicht mehr. Wie weiland Karl der Fünfte, Herr zweier Welten, freiwillig die Insignien der Macht von sich legte, um sich einzugraben in den Sarg des Eskorials, so hat Tolstoi wie sein Geld, das Haus und den Ruhm, auch seinen Namen hinter sich geworfen; T. Nikolajew nennt er sich jetzt, erfundener Name eines, der sich ein neues Leben erfinden will und den reinen und richtigen Tod. Gelöst endlich alle Bande, nun kann er der Pilger sein auf fremden Straßen, Diener der Lehre und des aufrichtigen Worts. Im Kloster Schamardino nimmt er noch Abschied von seiner Schwester, der Äbtissin: zwei greise gebrechliche Gestalten sitzen beisammen inmitten von milden Mönchen, von Ruhe und rauschender Einsamkeit verklärt; wenige Tage später kommt die Tochter nach, das Kind, geboren in jener ersten mißlungenen Fluchtnacht. Aber auch hier
    in der Stille duldet es ihn nicht, er fürchtet erkannt, verfolgt, erreicht zu werden, noch einmal zurückgerissen in dieses unklare, unwahre Dasein im eigenen Haus. So weckt er, abermals von unsichtbarem Finger berührt, am 31. Oktober um vier Uhr morgens plötzlich die Tochter und drängt, weiterzufahren, irgendwohin, nach Bulgarien, nach dem Kaukasus, ins Ausland, irgendwohin, wo der Ruhm und die Menschen ihn nicht mehr erreichen, nur endlich in die Einsamkeit, hin zu sich selber, hin zu Gott.
    Aber der furchtbare Widerpart seines Lebens, seiner Lehre, der Ruhm, sein Qualteufel und Versucher, noch läßt er sein Opfer nicht. Die Welt erlaubt nicht, daß »ihr« Tolstoi sich, seinem ureigenen, wissenden Willen gehöre. Kaum sitzt der Gejagte im Coupé, die Mütze tief in die Stirn gedrückt, und schon hat einer der Reisenden den großen Meister erkannt, schon wissen es alle im Zuge, schon ist das Geheimnis verraten, schon drängen außen an die Wagentür Männer und Frauen, ihn zu sehen. Die Zeitungen, die sie mit sich führen, bringen spaltenlange Berichte von dem kostbaren Tier, das dem Kerker entflohen, schon ist er verraten und umstellt, noch einmal, zum letztenmal steht der Ruhm auf Tolstois Weg zur Vollendung. Die Telegraphendrähte neben dem sausenden Zug surren von Botschaften, alle Stationen sind verständigt von der Polizei, alle Beamten mobilisiert, zuHause bestellen sie bereits Extrazüge, und die Reporter jagen von Moskau, von Petersburg, von Nishnij-Nowgorod, von allen vier Flanken des Windes ihm nach, dem flüchtigen Wild. Der heilige Synod entsendet einen Priester, um den Reuigen zu fassen, und plötzlich steigt ein fremder Herr ein in den Zug, kommt wieder und wieder in immer neuer Maske an dem Coupé vorbei, ein Detektiv: – nein, der Ruhm läßt seinen Sträfling nicht entfliehen. Leo Tolstoi soll und darf nicht allein mit sich sein, die Menschen dulden nicht, daß er sich selber gehöre und seine Heiligung erfülle.
    Schon ist er umstellt, schon ist er umringt, kein Dickicht, in das er sich werfen kann. Wenn der Zug an die Grenze kommt, wird mit höflich gelüftetem Hut ein Beamter ihn begrüßen und ihm den Übertritt verweigern; wo immer er ausrasten will, wird der Ruhm sich ihm gegenübersetzen, breit, vielmündig und lärmend: nein, er kann nicht entkommen, die Kralle hält ihn fest. Aber da plötzlich bemerkt die Tochter, wie den greisen Körper des Vaters ein kalter Schauerfrost schüttelt. Erschöpft lehnt er sich an die harte Holzbank. Schweiß bricht aus allen Poren des Zitternden und tropft von der Stirn. Ein Fieber, aufgebrochen aus seinem Blute, Krankheit ist über ihn gekommen, um ihn zu retten. Und schon hebt der Tod seinen Mantel, den dunklen, ihn zu decken vor den Verfolgern.
    In Astapowo, einer kleinen Bahnstation, müssen sie haltmachen, der Todkranke kann nicht mehr weiter. Kein Gasthof, kein Hotel, kein fürstlicher Raum, ihn zu bergen. Beschämt bietet der
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