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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens
Autoren: Stefan Zweig
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Vermögen zurückgeschreckt und vor seinem drängenden Gewissen in die »Weisheit des Nichthandelns« geflüchtet. Jeder Versuch, auf das Recht an seinen Werken auch über sein Leben hinaus zu verzichten, hatte den erbittertsten Widerstand der Familie gefunden, den mit einerbrutalen Handlung gewaltsam zu überwinden er zu schwach und in Wahrheit zu menschlich war; so hatte er jahrelang sich beschränkt, persönlich kein Geld zu berühren und von seinen Einnahmen keinen Gebrauch zu machen. Aber – so klagt er sich selbst an – »diesem Ignorieren lag der Umstand zugrunde, daß ich prinzipiell alles Eigentum verneinte und aus falschem Schamgefühl vor den Menschen mich um mein Eigentum nicht kümmerte, damit man mich nicht der Inkonsequenz beschuldige«. Immer wieder, nach den verschiedensten fruchtlosen Versuchen, deren jeder eine Tragödie im engsten Kreise der Seinen zeitigt, schiebt er die klare und bindende Entscheidung über sein Vermächtnis von sich selbst weg und in einen unbestimmten Zeitpunkt hinaus. Aber 1908, im achtzigsten Jahre, da die Familie das Jubiläum zu einer mit reichlichem Kapital unternommenen Gesamtausgabe benutzt, ist es dem öffentlichen Feinde alles Eigentums nicht mehr möglich, tatenlos zu bleiben; im achtzigsten Jahre muß sich Leo Tolstoi mit offenem Visier dem Entscheidungskampf stellen. Und so wird Jasnaja Poljana, der Pilgerort Rußlands, hinter verschlossenen Türen der Schauplatz eines Kampfes zwischen Tolstoi und den Seinen, der um so grimmiger und gräßlicher ist, als er um ein Kleinliches geht, um Geld, und von dessen Grauenhaftigkeit selbst die grellen Schreie des Tagebuches nur unzulängliche Ahnung geben. »Wie schwer ist es doch, sich von diesem schmutzigen, sündigen Eigentum loszumachen«, stöhnt er auf in diesen Tagen (25. Juli 1908), denn an diesem Eigentum zerrt mit verkrallten Nägeln die halbe Familie. Szenen aus Kolportageromanen ärgster Art, erbrochene Läden, durchwühlte Schränke, belauschte Gespräche, Versuche der Entmündigung, wechseln mit tragischesten Augenblicken, mit Selbstmordversuchen der Frau und Fluchtdrohungen Tolstois: die »Hölle von Jasnaja Poljana«, wie er sie nennt, öffnet ihre Pforten. Aber gerade aus dieser äußersten Qual findet Tolstoi schließlich eine äußerste Entschlossenheit. Endlich, ein paar Monate vor seinem Tode, entschließt er sich um der Reinheit und Redlichkeit dieses Todes willen, keine Zweideutigkeiten und Unklarheiten mehr zu dulden und ein Testament der Nachwelt zu hinterlassen, das undeutbar sein geistiges Eigentum der ganzen Menschheit überweist. Noch tut eine letzte Lüge not, um diese letzte Wahrhaftigkeit zu vollbringen. Daer im Haus sich belauscht und überwacht fühlt, reitet der Zweiundachtzigjährige zu scheinbar gleichgültigem Spazierritt in den Nachbarwald von Grumont, und dort, auf einem Baumstumpf – dramatischester Augenblick unseres Jahrhunderts –, unterschreibt Tolstoi in Gegenwart dreier Zeugen und der ungeduldig schnaubenden Pferde endlich jenes Blatt, das seinem Willen gültige Kraft und Geltung über sein Leben hinaus bezeugt.
    Nun ist die Fußfessel hinter ihn geworfen, und er glaubt die entscheidende Tat getan. Aber die schwerste, die wichtigste und notwendigste wartet noch seiner. Denn kein Geheimnis hält stand in diesem menschendurchflackerten Hause des redseligen Gewissens, bald ahnt es die Frau, bald weiß es die Familie, daß Tolstoi heimliche Verfügung getroffen. Sie spüren dem Testament nach in Kästen und Schränken, durchforschen das Tagebuch, um eine Fährte zu finden, die Gräfin droht mit Selbstmord, wenn der verhaßte Helfer Tscherkow nicht seine Besuche einstelle. Da erkennt Tolstoi: hier inmitten von Leidenschaft, Gewinngier und Haß und Unruhe kann er sein letztes Kunstwerk, den vollendeten Tod, nicht gestalten; und Angst überkommt den greisen Mann, die Familie könnte ihn »in geistiger Hinsicht um jene kostbaren Minuten bringen, die vielleicht die herrlichsten sind«. Und mit einmal bricht aus der untersten Tiefe seines Gefühls wieder jener Gedanke auf, daß er um der Vollendung willen, wie das Evangelium fordert, Weib und Kinder lassen müsse, Besitz und Gewinn um der Heiligung willen. Zweimal war er schon geflohen, 1884 zum erstenmal, aber auf halbem Wege gebrach ihm die Kraft. Damals zwang er sich, heimzukehren zu seiner Frau, die in den Wehen lag und noch in derselben Nacht ihm ein Kind gebar – dieselbe Tochter Alexandra, die ihm nun zur Seite steht, sein
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