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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens
Autoren: Stefan Zweig
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fühlen wir sie deutlicher denn in desKünstlers Bild und Wort? Brüder seid ihr mir, Beethoven und Chopin, ich fühle eure Blicke jetzt ganz in mir ruhn, und der Menschheit Herz schlägt in mir auf: Verzeiht mir, ihr Brüder, daß ich euch schmähte.« Das Spiel endet mit einem hallenden Akkord, alle applaudieren, und Tolstoi nach einem kleinen Zögern gleichfalls. Alle Unrast in ihm ist genesen. Mit einem sanften Lachen tritt er in den versammelten Kreis und freut sich guten Gesprächs; endlich weht etwas wie Heiterkeit und Stille um ihn, der vielfältige Tag scheint vollkommen geendet.
    Aber noch einmal, ehe er zu Bett geht, schreitet er hinein in sein Arbeitszimmer. Ehe der Tag endet, wird Tolstoi mit sich noch letztes Gericht halten, wird, wie immer, Rechenschaft von sich fordern für jede Stunde sowie für sein ganzes Leben. Aufgeschlagen liegt das Tagebuch, das Auge des Gewissens blickt ihn aus den leeren Blättern an. Tolstoi besinnt sich jeder Stunde des Tages und hält Gericht. Er gedenkt der Bauern, des selbstverschuldeten Elends, an dem er vorbeigeritten, ohne anders zu helfen als mit kleiner, erbärmlicher Münze. Er erinnert sich, ungeduldig gewesen zu sein mit den Bettlern, und der bösen Gedanken gegen seine Frau. All diese Schuld zeichnet er auf in sein Buch, das Buch der Anklage, und mit grimmigem Stift vermerkt er das Urteil »wieder träge gewesen, seelenlahm. Nicht genug Gutes getan! Noch immer habe ich nicht gelernt, das Schwere zu tun, die Menschen um mich zu lieben statt der Menschheit: hilf mir, Gott, hilf mir!«
    Dann noch das Datum des nächsten Tages und das geheimnisvolle »W. i. l.«, Wenn ich lebe. Nun ist das Werk vollbracht, wieder ein Tag zu Ende gelebt. Gedrückter Schulter geht er hinüber ins Nachbarzimmer, der alte Mann, legt die Bluse, die klotzigen Stiefel ab und wirft den Leib nieder, den schweren Leib ins Bett und denkt, wie immer, zuerst an den Tod. Noch flügeln Gedanken, die farbigen Falter, unruhig über ihn hin, aber mählich verlieren sie sich wie Schmetterlinge im Walde immer tieferen Dunkels. Schon mattet der Schlummer ganz nah nieder ...
    Da plötzlich – er schreckt auf –, war das nicht ein Schritt? Ja, er hört einen Schritt nebenan, leise und schleicherisch, einen Schritt im Arbeitszimmer, und schon springt er auf, lautlos, halbnackt, und preßt die brennenden Augen an das Schlüsselloch. Ja, es ist Licht im Nachbarzimmer, jemand istmit einer Lampe hineingetreten und wühlt in seinem Schreibtisch, blättert im geheimsten Tagebuch, um die Worte zu lesen, die Zwiesprache seines Gewissens: Sophia Andrejwna, seine Frau. Auch in seinem letzten Geheimnis belauert sie ihn, nicht mit Gott selbst lassen sie ihn allein; überall, überall in seinem Hause, in seinem Leben, in seiner Seele ist er umstellt von der Gier und der Neugier der Menschen. Seine Hände zittern vor Wut, schon greift er an die Klinke, die Türe plötzlich aufzureißen und loszufahren auf die eigene Frau, die ihn verraten. Aber im letzten Augenblick bezähmt er seinen Zorn: »Vielleicht ist auch dies mir als Prüfung auferlegt.« So schleppt er sich wieder zurück auf das Lager, stumm, ohne Atem, wie in einen ausgeronnenen Brunnen in sich selber hinablauschend. Und so liegt er noch lange wach, Leo Nikolajewitsch Tolstoi, der größte und mächtigste Mann seiner Zeit, verraten in seinem eigenen Hause, zerquält von Zweifeln und frierend vor Einsamkeit.
    Entscheidung und Verklärung
     
    Um an die Unsterblichkeit zu glauben, muß man hier
    ein unsterbliches Leben leben.
Tagebuch, 6. März 1896
     
    1900. Als Zweiundsiebzigjähriger hat Leo Tolstoi die Schwelle des Jahrhunderts überschritten. Aufrecht im Geiste und doch schon legendarische Gestalt geht der heroische Greis seiner Vollendung entgegen. Milder als vordem leuchtet das Antlitz des alten Weltwanderers aus dem verschneiten Bart und wie durchscheinendes Pergament, überschrieben mit zahllosen Runzeln und Runen, die mählich gilbende Haut. Ein ergeben geduldiges Lächeln nistet jetzt gern um die beschwichtigte Lippe, seltener bäumt sich die buschige Braue im Zorn, nachsichtiger und abgeklärter mutet er an, der alte zornige Adam. »Wie gütig er geworden ist!« staunt der eigene Bruder, der ihn ein Leben lang immer nur als Aufbrausenden und Unbezähmbaren gekannt, und wirklich, die starke Leidenschaft beginnt abzuklingen, er hat sich müde gerungen und müde gequält: ein neuer Glanz von Güte übersonnt sein Antlitz im letzten Abendlicht.
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