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Downtown Blues

Downtown Blues

Titel: Downtown Blues
Autoren: Myra Cakan
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stand auf. Tastete sich im Dunkeln zur Tür, wo der Lichtschalter war. Knipste ihn an, es blieb dunkel. War dies alles vielleicht noch ein Teil seines Traumes? Er lief über den Flur. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt. Sein Herz klopfte plötzlich so laut, dass ihn das Geräusch, die Hand an der Klinke, erstarren ließ. Und dann schwang die Tür auf, er konnte sich nicht erinnern, sie angestoßen zu haben.
    Sie waren einfach verschwunden, hatten sogar noch Zeit gehabt, ihre Koffer zu packen, wie er an den aufgerissenen Schubladen erkennen konnte. Er war doch erst neun. Viel zu jung, um allein zu sein. Wie konnten sie ihm das antun?
    Der Sturm peitschte das angelehnte Fenster auf, fetzte die gebauschten Vorhänge zur Seite und ließ das Mondlicht herein. Er konnte sich in den großen Spiegeln auf der Schleiflackschrankwand erkennen: ein kleiner dünner Junge in einem Garfield-Pyjama. Mutlos sah er an sich hinunter, er trug ja nicht einmal Schuhe, wie sollte er da dem Leben begegnen?
    Da erst sah er das Wasser. Der grüne Teppichboden war schon ganz durchgeweicht – hatte patschige, schwarze Flecken. Jetzt wird Papa aber toben, dachte er. Ganz weit entfernt konnte er die Sirenen hören. Das war beim Einkaufszentrum. Er erinnerte sich, dass sie sie vor vier Jahren dort auf dem Dach installiert hatten, das war gewesen, nachdem die »Fremden« gekommen waren. Und dann merkte er, dass er nur an all diese Dinge dachte, weil er die Wirklichkeit nicht wahrhaben wollte. Er schniefte. Jungen weinen nicht. Doch dann fiel er auf die Knie und drückte sein Gesicht in Mamas Kopfkissen und heulte sein ganzes Elend hinein.

    Europa unter den Füßen

    Es war Sylvester, es war Nacht und es war kalt. Regen und Wind peitschten die Bugwelle zur meterhohen Gischt. Der Kutter bäumte sich auf und knallte auf die Eisschollen in der Fahrrinne. Eispartikel schnitten ihr ins nackte Gesicht. So sah also der Winter auf dem Kontinent aus? Skadi zog sich die Schneebrille vor die Augen. Lügen, nichts als Lügen. Seit sie an Bord gegangen war, hatte ihr der bekiffte Kapitän nichts als einen Sack voll Lügen erzählt.
    »Mach, dass du von Bord kommst, ’skimo.« Während der ganzen Überfahrt hatte sie nicht einmal sein Gesicht sehen können und die Angst hatte sie nicht verlassen, dass er die Krankheit haben könnte. Viele auf den Inseln hatten sie. Seit sie auf Reisen gegangen war, hatte es sich Skadi zur Gewohnheit gemacht, ihren ganzen Körper jeden Morgen nach den verräterischen dunklen Malen abzusuchen. »Pest von den Sternen« hatte man die Seuche anfangs genannt. Doch »sie« verboten es und so hieß es nur noch »die Krankheit«, so als wären alle anderen Krankheiten plötzlich bedeutungslos geworden.
    Sie hörte das nervende Geräusch von Metall, das sich an Beton reibt. Der Kapitän musste es auch gehört haben, aber er drosselte nicht einmal seinen illegalen Dieselmotor. War er einfach nur gleichgültig oder wieder mal zu von irgendwelchem Vega-Stoff? Wen küm¬merte es – sie hatte für die Überfahrt bezahlt, und er hatte sie ans Ziel gebracht.
    Plötzlich drehte er sich zu ihr um, und zum ersten und letzten Mal sah Skadi sein Gesicht, sah in ausgewaschene, fahle Augen. Sie schauderte, obwohl ihr nicht kalt war.
    Nichts wie weg.
    Blind tastete sie nach ihrem Rucksack mit der wasserdicht verpackten Schlafrolle und sprang an Land. Europa unter ihren Füßen, schwankend wie das krängende Boot. Ein wirklich irres Gefühl.
    Skadi war in einem der vielen Slums von Longyearbyen aufgewachsen. Ihre Eltern hatten noch off-shore auf den Plattformen vor Franz-Josef-Land gearbeitet, bis sie das Embargo kalt erwischte. Was genau damals abgelaufen war, hatten sie da unten nie so richtig mitgekriegt. Sie hatten genug damit zu schaffen, sich die ganzen Kommissionen vom Hals zu halten, die sie wieder zurückschicken wollten. Wohin zurück eigentlich? Während der darauf folgenden Unruhen hatte sie ihre Eltern verloren. Nicht, dass sie ihre Leichen gesehen hätte – sie verschwanden einfach. Die Multis ließen eine Menge Leute verschwinden, damals. Personal, das auf den Plattformen den Mund zu weit aufgemacht hatte, Streikposten, Greenpeace-Aktivisten.
    Und nun war sie endlich hier, freiwillig und illegal. Die größte Party des Jahrhunderts – und sie war dabei. Auf den Inseln hatte sie noch versucht, eines der alten Hovercrafts nach Amsterdam zu kriegen. Nie vergaß sie den Ausdruck auf dem Gesicht des Reiseagenten, und sein Gelächter.
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