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Downtown Blues

Downtown Blues

Titel: Downtown Blues
Autoren: Myra Cakan
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Halma Halmasdottirs Selbstgebranntem. Lasse war ihr Sysselman, zumindest nannten ihn alle so. Fremde hätten ihn vermutlich einen alten Säufer geheißen. Aber Fremde verirrten sich noch seltener nach Longyearbyen als die Sonne im Dezember. Und auch sonst schien die Sonne so gut wie nie. Seit vielen Jahren verdunkelten die brennenden Kohleminen den Himmel und schwärzten den Schnee.
    Spitzbergen, so hatten die ersten Europäer die Inseln im Polarmeer genannt. Dabei waren weit und breit nur Tafelberge zu sehen. Ein weiterer von vielen Beweisen, dass die Europäer schon immer etwas wirr im Kopf gewesen sind, meinte Palle. Palle hatte auch ’ne Menge Inuit-Blut in seinen Adern, es hieß, seine alte Großmutter hätte ihn mit Robbenblut großgezogen, nachdem seine Mutter an der Krankheit gestorben war. Sie liebten solche Geschichten, schufen sich gerne ihre eigenen Legenden da oben.

    Der Regen war inzwischen in Schneeregen übergegangen, und der Wind war zu dröhnendem Sturm geworden. Skadi zögerte, wieder in die Kälte hinauszutreten. Dumpf klangen die seltsamen Worte der alten Frau in ihrem Kopf nach wie die Sturmwarnglocken der Heimat. Schmalzkringel – Skadi versuchte, Sinn in die Prophezeiung zu bringen. Sie wusste nicht, dass Prophezeiungen nie einen Sinn ergeben. Daheim, wenn Åsgård die Runen-Knochen auswarf, schien alles so klar. Hatte sie nicht auch diese Reise vorhergesehen?
    »Willst du fliegen, Mensch-Frau?«
    Seine hochbeinige Silhouette verschmolz perfekt mit der Nacht. Unversehens griff eine vierfingrige Hand aus dem Schatten nach ihrer Jacke. Ein Veganer. Sicher, sie hatte von ihnen gehört – wer nicht? Die Bilder der Invasion – jetzt nannten sie es nur noch die Ankunft – waren vor dem Zusammenbruch über das Netz zu ihnen gelangt. Doch seine Anwesenheit, so nah und so fremd, verschlug ihr den Atem. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, ohne seine matt glänzende Haut zu berühren, fuchtelte mit den Armen, als wollte sie einen vorwitzigen Welpen verscheuchen, und machte kleine, sinnlose »Kusch, Kusch«-Geräusche. Aber Dealer bleibt Dealer, er packte nur fester zu und hielt ihr eine kleine Phiole vors Gesicht, brach geschickt den Verschluss ab und schwenkte sie unter ihrer Nase hin und her. Die Droge aus einer anderen Welt – auch davon hatte sie gehört.
    Skadi versuchte, die Luft anzuhalten – die Zeit fror ein, sie hörte ein lautes Knirschen, fern aus der Vergangenheit, das zerberstende Glas der Phiole, laut und bedrohlich wie ein kalbender Eisberg. Dunkelheit, unendlich fremd, schlug über ihr zusammen, und weit entfernt schrie eine Stimme um Hilfe, voll wissender Verzweiflung, dass niemand da war, um sie zu hören. Einsamkeit erstickte sie wie ein alter, stinkender Mantel und irgendwo in den Taschen lauerte süßer, tödlicher Wahnsinn.
    Dann kam Skadi, die Kämpferin hervor. Wild um sich tretend, bis sie eine weiche Stelle unter dem Chitinpanzer des Aliens traf. Plötzlich war sie frei, fiel zu Boden. Sie atmete heftig ein und aus und versuchte dabei, den Kopf klarzubekommen. Sie ließ das Rauschen der Brandung aus ihren Erinnerungen emporsteigen und wieder in sich einsickern.
    »He, ’skimo.«
    »Hau ab!« Abwehrend schlug sie nach der Stimme, nicht sicher, ob sie Teil der Dunkelheit war oder aus der realen Welt stammte.
    »Alles okay, ’skimo?«
    Erlerntes Verhalten, dachte Skadi, Sätze bilden, Fragen stellen. Sie lauschte dem Klang der Frage nach, überlegte, ob es die Mühe wert war, die Augen zu öffnen.
    »Was willst du?«
    »Nimm mich mit nach ’skimo-Land, da krieg ich keinen Sonnenbrand, nimm mich in dein ’skimo-Haus, süße, kleine ’skimo-Maus.«
    Die singende Stimme bohrte sich mit der Lästigkeit eines summenden Moskitos in ihr Bewusstsein. Sie drückte das Zentnergewicht ihrer Augenlider nach oben. Es war der Junge aus dem Tunnel. Er tanzte auf einem Bein um sie herum und sang dieses blöde Lied, immer und immer wieder.
    »Was willst du?« Die Worte hinterließen ein Echo in ihrem Kopf, Schallwellen, die sich dumpf in ihr Gehirn gruben.
    »Mitkommen.«
    Es klang selbstsicher und hilflos zugleich. Erstaunt sah Skadi den Jungen an. Er war viel jünger, als sie zuerst gedacht hatte – elf, höchstens zwölf Jahre alt. Neben ihm, auf einem kleinen Mäuerchen, stand eine pinkfarbene Golftasche, die mit grünen und schwarzen Schlägern und Bällen verziert war. Eigenartig. Sie setzte sich auf das Mäuerchen und rieb sich die Stirn.
    »Warum willst du
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