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Double Cross. Falsches Spiel

Double Cross. Falsches Spiel

Titel: Double Cross. Falsches Spiel
Autoren: Daniel Silva
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Bajonett und kam auf Vicary zu. Das Lächeln auf seinem Gesicht war so verwirrend, daß Vicary nicht wußte, ob er ihn umarmen oder anfallen würde. Und er war sich nicht sicher, was er mehr fürchtete.
    Tatsächlich schüttelte Boothby ihm etwas zu herzlich die Hand und legte ihm eine seiner großen Pranken auf die Schulter.
    Sie war heiß und feucht, als habe er gerade ein Tennis-Match beendet. Er servierte Vicary persönlich den Tee und sprach über Nebensächlichkeiten, während Vicary eine letzte Zigarette rauchte. Dann zog er feierlich den Abschlußbericht der Untersuchungskommission aus einer Schublade und legte ihn auf den Schreibtisch. Vicary vermied es, den Bericht direkt anzuschauen.
    Allzu genüßlich erklärte Boothby, daß Vicary die Akte über seine eigene Operation nicht lesen dürfe. Statt dessen reichte er ihm ein einzelnes Blatt, das angeblich eine ›komprimierte Zusammenfassung‹ seines Inhalts darstellte. Vicary hielt das Papier beim Lesen fest in beiden Händen, damit es nicht zitterte.
    Es war ein niederträchtiges, obszönes Dokument, aber jeder Widerspruch wäre zwecklos gewesen. Er gab es Boothby zurück, reichte zuerst ihm und dann dem Generaldirektor die Hand und verließ den Raum.
    Vicary ging die Treppe hinunter. Harry war in seinem früheren Büro. Eine häßliche Narbe zog sich über sein Kinn.
    Vicary war kein Freund von großen Abschiedsszenen. Er sagte Harry, daß man ihn gefeuert hatte, dankte ihm für alles und verabschiedete sich.
    Es regnete wieder, und für Juni war es zu kalt. Der Chef der Fahrbereitschaft bot Vicary einen Wagen an. Vicary lehnte höflich ab. Er öffnete seinen Schirm und ging durch den strömenden Regen zu seinem Haus in Chelsea.
    Er verbrachte die Nacht in London und erwachte im Morgengrauen, als der Regen gegen die Fensterscheiben trommelte. Es war der 6. Juni. Er schaltete das Radio ein und hörte die BBC-Nachrichten. Die Invasion hatte begonnen.
    Gegen Mittag verließ Vicary das Haus. Er hatte erwartet, allerorten auf besorgte Menschen zu treffen, die in Gruppen zusammenstanden und aufgeregt diskutierten, doch es war totenstill in London. Einige Leute tätigten Einkäufe, andere suchten Kirchen auf, um zu beten. Leere Taxis fuhren auf der Suche nach Kunden durch die Straßen.
    Vicary beobachtete die Londoner bei ihren Alltagsgeschäften.
    Er wollte auf sie zurennen, sie schütteln und rufen: Wißt ihr denn nicht, was gerade geschieht? Begreift ihr überhaupt, was uns das abverlangt hat? Wißt ihr nicht, wie gewieft und kaltblütig wir sein mußten, um den Feind zu täuschen? Wißt ihr nicht, was sie mir angetan haben?
    Doch er tat es nicht. Er nahm in einer Eckkneipe einen Imbiß zu sich und lauschte den optimistischen Meldungen im Radio.
    Am Abend, als er wieder allein war, hörte er die Ansprache des Königs an das Volk, dann ging er zu Bett.
    Am nächsten Morgen nahm er den ersten Zug nach Gloucestershire.
    Im Sommer fand Vicary allmählich zu einem regelmäßigen Tagesablauf zurück.
    Er stand früh auf und las bis zum Mittagessen, das er jeden Tag in den Eight Be lls im Dorf einnahm - Gemüsepastete, Bier und manchmal auch Fleisch, wenn es auf der Speisekarte stand.
    Nach dem Essen unternahm er seinen täglichen Gewaltmarsch in der Umgebung des Dorfes. Jeden Tag dauerte es etwas weniger lang, bis die Schmerzen in seinem Knie verschwanden, und seit August schaffte er jeden Nachmittag fünfzehn Kilometer. Er gab die Zigaretten auf und begann, Pfeife zu rauchen. Das Ritual des Stopfens, Reinigens, Anzündens und Wiederanzündens war seinem neuen Leben gemäßer.
    Er wußte nicht mehr genau, an welchem Tag es passiert war, doch irgendwann wich alles aus seinem Bewußtsein, das enge Büro, das Ticken der Fernschreiber, der Kantinenfraß, die lächerlichen Decknamen: Double Cross... Mulberry... Phönix...  Kesselpauke...
    Selbst Helen verschwand in einem versiegelten Bereich seines Gedächtnisses, wo sie keinen Schaden mehr anrichten konnte.
    An den Wochenenden begann ihn Alice Simpson zu besuc hen, und Anfang August blieb sie eine ganze Woche lang.
    Am letzten Tag des Sommers befiel ihn die leichte Melancholie, die einen auf dem Land ergreift, wenn das warme Wetter zu Ende geht. Der herrliche Sonnenuntergang malte purpurrote und orangefarbene Streifen an den Horizont, und die erste Herbstkühle lag in der Luft. Löwenzahn und Glockenblumen waren schon lange verblüht. Er erinnerte sich, wie ihm Brendan an einem ähnlichen Abend, der ein halbes Leben
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