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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss
Autoren: Bettina Belitz
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all dem – Scheiß!« Ihre Hände schnellten in die Höhe, worauf sie ihre Balance verlor und auf den Hintern knallte. Nun saßen wir uns gegenüber und konnten uns immerhin ins Gesicht sehen. Ihre olivfarbene Haut hatte jenen grünlichen Schimmer angenommen, der Gianna immer dann zierte, wenn ihr übel oder sie gestresst war. Wahrscheinlich traf beides zu.
    »Mein Boiler ist kaputtgegangen, einfach so. Einfach so! Ich hab kein warmes Wasser mehr!«
    »Bisschen leiser, Gianna, bitte …«, bat ich sie gedämpft und versuchte, dabei möglichst verständnisvoll zu klingen. Gianna war nicht klar, dass ein halbes Dutzend Ohren mithörte und mindestens doppelt so viele Augen zusahen. »Okay, der Boiler ist kaputt. Und dann?«
    »Nichts dann! Das war zu viel! Diese Scheißbude und dieser Scheißjob und diese Scheißkollegen und ich … ich hab … hingeschmissen. Alles. Ich hab …« Sie schluckte und sah mich verzweifelt an. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren stumpf vor Erschöpfung. »Ich hab meinem Boss aus lauter Zorn heißen Kaffee über die Tastatur gekippt. Eine ganze Tasse. Ich kann nicht mehr dorthin zurück. Auch nicht in meine Wohnung. Ich hab kein warmes Wasser mehr.«
    Ich sah ein, dass ein sachliches Gespräch momentan nicht im Bereich des Machbaren war, schnappte mir den jaulenden Rufus und zog Gianna am Ärmel nach oben. Sie ließ sich wie ein altes blindes Mütterchen zum Haus führen und stolperte neben mir die Stufen zum Wintergarten hoch, wo Mama bereits in angestrengt unterdrückter Neugierde auf uns wartete.
    »Und?«, fragte sie behutsam. Gianna strich sich die Haare aus dem Gesicht, um Mama anzusehen. Sie rang sich ein Lächeln ab, doch es konnte ihre miserable Verfassung nicht kaschieren.
    »Burn-out«, diagnostizierte ich knapp und war mir einen Atemzug lang nicht sicher, ob ich von Gianna sprach – oder nicht doch von mir selbst.

AUSGEBRANNT
    »Weißt du, was mich an unserer Situation am meisten nervt?«
    Gianna hatte zu später Stunde an meine Tür geklopft, sofort ihre Nase durch den Spalt gesteckt, als ich mich zu einem höflichen »Ja?« hinreißen ließ, und rechnete damit, dass mich ihre Antwort brennend interessierte. Dabei hatte ich selbst unzählige Varianten dieser Antwort in petto. Sie musste nicht noch eins obendraufsetzen.
    Doch ich hatte in den vergangenen Wochen zu viele Nächte allein in meinem Zimmer verbracht; etwas Gesellschaft war vielleicht nicht verkehrt. Andererseits steckte ich gerade mitten in einer Recherche. Ob sie mir etwas brachte, wusste ich noch nicht. Ich hatte mich in das Leben von Leonardo da Vinci vertieft, der immerhin Erfindungen gemacht hatte, die von einer herausragenden Intelligenz und visionärer Kraft zeugten. Ein Halbblut? Oder vielleicht sogar ein Mahr? War er eventuell niemals gestorben und am Ende einer der Revoluzzer, mit denen mein Vater kooperierte?
    »Komm rein«, bat ich Gianna dennoch. Die Internetseite war auch später noch da. Und wenn Gianna nicht allzu lange blieb, konnte ich vielleicht nach dem Da-Vinci-Exkurs WikiLeaks einen Besuch abstatten. Sollte irgendein Mensch außer uns etwas von Mahren wissen, dann wohl Julian Assange. Gianna ließ ihrer Nase den Rest ihres schmalen Körpers folgen und trippelte zu meinem Bett, wo sie sich sofort im Schneidersitz ans Kopfende hockte. Bibbernd schob sie meine Decke über ihre nackten Zehen. Obwohl ich ihrem Erscheinungsbild kaum Aufmerksamkeit schenkte, war mir nicht entgangen, dass sie ein wenig frischer und gesünder aussah als bei ihrer Ankunft vor zwei Tagen.
    Gianna war wirklich am Ende gewesen – vielleicht nicht am Ende ihrer Weisheit, aber am Ende ihrer Kräfte. Der kaputte Boiler und das Kaffeeattentat auf die Tastatur ihres Chefs waren nur die Spitze des Eisbergs, der ihr Leben zum Kentern gebracht hatte. Das fanden Mama und ich bei einer aufreibenden Fragestunde heraus, zu der wir Gianna genötigt hatten, nachdem ich sie in den Wintergarten geschleppt und Mama vorgestellt hatte. Gianna bereitete das Antworten große Mühe, denn sie hatte mir vorab das Versprechen geben müssen, nichts von unseren düsteren Nächten mit François und Colin auszuplaudern. Ich fürchtete, dass auch diese Erlebnisse ihr Energie gestohlen hatten.
    Gianna hatte ihr Kuchenstück während unseres Kreuzverhörs nicht angerührt und nur ab und zu wie ein Vögelchen an ihrem Kaffee genippt. Ich wusste, dass sie beides liebte: Kaffee und Kuchen. Gianna war eine Kaffeetante. Es gehörte zu den Höhepunkten ihres
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