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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss
Autoren: Bettina Belitz
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Tages, sich um exakt halb fünf ein Plunderteilchen oder – wenn die Recherchen besonders gut liefen – ein Stück Kuchen zu gönnen und es am Redaktionsschreibtisch zu einer guten Tasse starkem Kaffee zu verzehren. Über Giannas Arbeitstage wusste ich dank ihrer Mails mittlerweile einigermaßen gut Bescheid. Deshalb: Wenn Gianna nachmittags um halb fünf Kuchen ablehnte, lag etwas im Argen. Trotzdem überraschten mich die Abgründe, die sich vor mir auftaten, als sie reuig wie eine Sünderin mit der Wahrheit herausrückte.
    Gianna war nicht nur ausgebrannt, sondern auch vollkommen abgebrannt. Weil sie die bürokratischen Hürden des Lebens als lästiges, aber zu vernachlässigendes Übel betrachtete und laut ihren eigenen Worten ihr Hirn sofort von alleine abschaltete, wenn in einem Satz Zahlen vorkamen, hatte sie die Briefe des Finanzamts nur oberflächlich gelesen und das Steuergesetz für Studenten falsch verstanden.
    »Studenten?«, hatte ich mich erstaunt vergewissert.
    »Ja, ich hab vor einem Jahr noch studiert«, gab Gianna etwas patzig zurück. Mein vermeintliches Nichtstun und mein gut gefüllter Geldbeutel waren ihr schon in Hamburg ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatte keine Ahnung, was ich seit Wochen hier so trieb. Denn sie wusste auch nicht, dass Tillmann und ich vorhatten, nach Italien zu fahren und Tessa zu töten. Noch nicht.
    »Ich dachte, du arbeitest schon jahrelang bei der Presse.«
    »Tu ich auch. Bedeutet ja nicht, dass man nebenbei nicht sein Examen machen kann, oder?«, entgegnete sie angriffsfreudig. »Tagsüber Termine, nachts lernen und Magisterarbeit schreiben. Da kommt keine Langeweile auf.«
    Jedenfalls hatte Gianna die Klausel mit der Bemessungsgrenze und dem Freibetrag für Studenten eher großzügig interpretiert und geglaubt, sie müsse lediglich die Einnahmen oberhalb dieser Grenze versteuern und nicht alles, sobald sie die Grenze überschritten hatte. Und die hatte sie überschritten – um einiges. Nun hatte sie 5000 Euro Steuernachzahlungen an der Backe, chronische Schulterschmerzen, einen kaputten Boiler und zudem in all der Hektik eine Mail, in der sie sich gewohnt spitzzüngig über die Gepflogenheiten ihrer Zeitungskollegen ausließ, versehentlich an den öffentlichen Artikelpool der Redaktion statt an Paul gesendet, wo die Nachricht minutenlang – laut Gianna die schlimmsten Minuten ihres Lebens – für alle ersichtlich gewesen war.
    Sie hatte den Technikchef unter Tränen überreden können, die Mail wieder aus dem System zu löschen, aber irgendjemand hatte sie schon ausgedruckt und herumgereicht. Es gab also keinen Grund mehr für Gianna, diese Redaktion ein weiteres Mal zu betreten.
    Ich fragte mich, ob ihre Kollegen nicht sahen oder wenigstens spürten, in welch jämmerlichem Zustand sie gefangen war. Sie war so müde, dass ihr manchmal im Sitzen die Augen zufielen, die kleinsten Dinge brachten sie aus der Fassung, sie hatte weder Hunger noch Durst und die ersten beiden Tage in unserem Haus verbrachte sie damit, in Mamas Nähzimmer auf dem Bett zu liegen und reglos vor sich hin zu dösen. Sie sei einfach froh, liegen zu können, sagte sie, wenn ich nach ihr sah und sie fragte, ob sie nicht wenigstens in den Garten gehen oder fernsehen wolle. Nein, wollte sie nicht. Gianna spielte toter Mann.
    Doch eben, als sie mich gefragt hatte, ob ich wüsste, was sie am meisten nervte an unserer Situation, hatte sie das erste Mal wieder wie ein lebendiger Mensch gewirkt – ein Mensch, der sich genauso dringend erholen musste wie ich, aber für den es genügte, einen vernünftigen Job und einen neuen Boiler zu bekommen, um sein Leben in Ordnung zu bringen. Konnte ich sie überhaupt mit unseren Mahrplänen belasten? In unseren Mails war höchstens Colin zur Sprache gekommen, und das eher auf humorige Weise. Aber Giannas Loyalität kannte keine Grenzen und sie war viel zu neugierig, um sich nicht mehr mit der Mahrwelt zu beschäftigen, sobald Tillmann, Paul und ich uns wieder unseren Plagegeistern zuwandten. Selbst wenn es keinen akuten Handlungsbedarf gab: Der Nachhall der Mahre war zu stark, zu mächtig. Sie erlaubten einem kein normales Leben mehr – als wäre es Sinn und Zweck ihres Raubens, alle sicheren Strukturen zu zerstören, wie François bei Paul, bevor er sich an ihm zu laben begann. Gianna musste über sie nachgedacht haben. Falls nicht, hatte ich mich komplett in ihr getäuscht.
    »Also, was nervt dich?«, fragte ich, als sie betont laut mit meiner Decke zu rascheln
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