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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio
Autoren: Sascha Lange
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konnte – sofern man denn der russischen Sprache mächtig war. Glücklicherweise passierte das nur einmal im Jahr.
    Besonders beliebt war der Scherbelberg unter den Kindern der Südvorstadt im Winter. Die Mutigen (und die Leichtsinnigen) rodelten an den steilen Hängen mit Schlitten und Gleitschuhen in mörderischer Geschwindigkeit nach unten. In aller Munde waren diese sogenannten »Todesbahnen«, weil sie wirklich nicht ungefährlich waren, was ihrer Beliebtheit unter den Kids jedoch keinen Abbruch tat. Im Gegenteil, es gab keine bessere Mutprobe, als sich eine der Todesbahnen hinabzustürzen. Außer vielleicht, an den verrosteten Leitern an der Innenwand des alten Gasometers am Südwestende der Südvorstadt bis hoch aufs Dach zu klettern. (Ganz im Vertrauen: Ich habe keine der beiden Mutproben bestanden – ich bin nicht mal angetreten.)
    Die Kinder, die direkt am Scherbelberg wohnten, bauten sich im Sommer in den dichten Gebüschen Buden und spielten Räuber und Gendarm. Wir vom östlichen Teil unseres Viertels kamen dort eher nicht zum Spielen hin. Das hatte was mit den Gruselgeschichten von Halbstarkencliquen zu tun, die sich hier zum heimlichen Rauchen trafen und Kinder verprügelten. Geschichten, die sicherlich fürsorgliche Eltern in die Welt gesetzt hatten, um uns von diesem weit entfernten und für sie unübersichtlichen Spielparadies fernzuhalten.
    Die Mystik des kleinen Berges blieb uns jedoch mit dem Älterwerden erhalten. Für uns als Jugendlichewurde er zu einem beliebten Ziel für Spaziergänge. Hier, auf dem grünen Dach unseres Stadtviertels, hatte man einen herrlichen Blick über Leipzig. Die Innenstadt nur einen Steinwurf entfernt, ganz hinten im Westen die Betonklötze des Neubaugebietes Grünau, und zu seinen Füßen der lange Streifen des Auewaldes, der die Stadt quasi in zwei Hälften teilt. Lustig war es, wenn wir nachts mit der Clique hochliefen und uns dabei Gruselgeschichten erzählten. Solweig zum Beispiel war furchtbar schreckhaft, und wir nutzten das natürlich schamlos aus – was für ein herrliches Gekreische.
    Neben Spaziergängen in der Gruppe war der Scherbelberg an lauen Sommerabenden auch ideal für lauschige Momente zu zweit. Besonders wenn man noch nicht wußte, ob das Mädchen mehr als nur freundschaftliche Zuneigung empfand, eignete sich der Scherbelberg nach einer Party oder einem Discobesuch perfekt als »Teststrecke«, und das ging so: Man lief mit der Angebeteten nicht den langen Weg, sondern nahm eine Abkürzung, einen steilen Trampelpfad querfeldein. An einer bestimmten Stelle konnte nur ein Ortskundiger ohne fremde Hilfe weiterklettern. Man ging voraus und bot seiner »Flamme« die Hand an. Hielt sie diese nach der Kletterei immer noch fest, bestanden gute Aussichten auf Knutschereien oben auf der Wiese. Ließ sie einen gleich wieder los, konnte man nach einem kurzen Blick über das nächtliche Leipzig getrost den normalen Rückweg antreten.
    Mit einer Picknickdecke im Gepäck waren die Büsche am Hang ein schöner Ort trauter Zweisamkeit. Dort schwirrten nach dem Sonnenuntergang manchmal Glühwürmchen herum, was den Romantikfaktornatürlich noch um einiges steigerte. Hatte man später den dazugehörigen Liebeskummer, spazierte man mit einem Kumpel auf den Scherbelberg, setzte sich oben auf die Wiese, trank die mitgebrachten Biere und schaute in die untergehende Sonne. Oder man ging allein hoch und überlegte nach düsteren Stunden der Trauer in aller Ruhe, welches Mädel man als nächstes anbaggern könnte.

Westwaren
    Die Offiziellen in der DDR sagten immer, daß der Sozialismus den Kapitalismus irgendwann überall auf der Welt ablösen würde, weil das eine Gesetzmäßigkeit der Menschheitsgeschichte sei. Also erst Urgesellschaft, dann Sklavenhaltergesellschaft, Feudalherrschaft, Kapitalismus, Sozialismus und schließlich als Krönung der Kommunismus. Mittlerweile wissen wir alle, daß es in der Reihenfolge auf dem Weg zum Paradies auf Erden auch kleinere vorübergehende Abweichungen geben kann, aber das war in den 80ern den Staatsbürgerkundelehrern an unserer Schule noch nicht klar.
    Der Kapitalismus seinerseits wußte, daß er irgendwann sterben würde, und das wollte er natürlich verhindern. Und so lockte er mit den bunten Westwaren – wie die Hexe aus Hänsel und Gretel mit ihrem Pfefferkuchenhaus – uns, die Bürger der sozialistischen Staaten, die wir uns ja schon auf der nächsten Entwicklungsstufe zum Paradies befanden. Und wir gaben uns willenlos
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