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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Autoren: Lionel Shriver
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schien ein Ingenieursstudium das Naheliegende zu sein. Wie er seinem Vater seitdem immer wieder versicherte, hatte er wirklich, ehrlich studieren wollen.
    Doch inzwischen war aus der in Limuru geborenen Laune ein fester Entschluss geworden. Sparen mochte aus der Mode gekommen sein, aber ein amerikanisches Mittelschichtsgehalt würde es doch gewiss zulassen, dass man ein wenig Geld auf die hohe Kante legte. Mit Betriebsamkeit, Fleiß und Bescheidenheit – die einstigen moralischen Stützpfeiler des Landes – sollte es doch möglich sein, ein finanzielles Pölsterchen zur Größe eines Rettungsrings aufzublasen und irgendwann einfach ins nächste Flugzeug zu steigen. Ausverkauf in der Dritten Welt: zwei Leben zum Preis von einem. Leben A und Leben B. Seit er volljährig war, hatte Shep sich der Verwirklichung von Leben B gewidmet. Er war nicht mehr sicher, ob der Begriff Fleiß noch passte, wenn man dermaßen hart arbeitete, nur um irgendwann nicht mehr arbeiten zu müssen.
    Im Hinblick auf sein wahres Ziel – nämlich Geld – hatte es Shep also instinktiv dorthin gezogen, wo Amerika das meiste davon verwahrte: Er bewarb sich am City College of Technology in New York. Eine Zeit lang nannte Gabe Knacker seinen Sohn charakterlos und beschimpfte ihn wegen seiner Anbetung des Mammon als »Philister«, während Shep überzeugt war, dass Geld – das Netzwerk der finanziellen Beziehungen zwischen dem Individuum und der Welt als Ganzem – eben gerade ein Zeichen von Charakter war; dass sich die Ambitionen eines Mannes am besten danach beurteilen ließen, wie er mit seinem Verdienst verfuhr. Insofern rührte er als anständiges, halbwegs begabtes Kind auch nicht das magere Gehalt seines Vaters als Kleinstadtpastor an (ein Schritt, dem sich Beryl nicht anschloss, als sie vier Jahre später ungeniert von ihrem Vater verlangte, ihr ein Filmstudium an der NYU zu finanzieren). Seit er mit neun Jahren seine ersten fünf Dollar fürs Schneeschippen verdient hatte, war Shep immer für sich selbst aufgekommen, sei es für einen Schokoriegel, sei es für seine Ausbildung.
    Da er also entschlossen war, zunächst arbeiten zu gehen und sich sein Studium dann selbst zu finanzieren, hatte er seinen Studienbeginn am City Tech in Downtown Brooklyn aufgeschoben und sich in der Nähe von Park Slope eine Einzimmerwohnung gesucht, einer damals – heute schwer vorstellbar – schäbigen Gegend, und unsagbar billig. Der Wohnungsbestand im Bezirk war heruntergekommen und wimmelte von Familien, die kleinere Reparaturarbeiten vornehmen lassen mussten und sich die halsabschneiderischen Stundenlöhne der gewerkschaftlich organisierten Handwerker nicht leisten konnten. Da er sich im Zuge seiner Mithilfe beim Erhalt des ewig bröckelnden spätviktorianischen Elternhauses in New Hampshire allerhand rudimentäre Elektriker- und Tischlerfähigkeiten angeeignet hatte, hängte Shep in den Lebensmittelläden Flugblätter auf und bot seine Dienste als Handwerker von der alten Schule an. Über Mundpropaganda wurde schnell bekannt, dass da ein junger Weißer war, der zu bescheidenen Preisen Dichtungsringe austauschen und morsche Dielen ersetzen konnte, und schon bald wuchs ihm die Arbeit über den Kopf. Als er den Studienbeginn an der City Tech um ein zweites Jahr verschob, hatte er eine Firma gegründet und beschäftigte als »Der Allrounder« bereits die ersten Teilzeitkräfte. Zwei Jahre später stellte Shep seinen ersten Vollzeitmitarbeiter ein. Als gestresster Unternehmer genoss Shep wenig Freizeit, und außerdem hatte er gerade geheiratet. Aus reinen Effizienzgründen fungierte Jackson Burdina deshalb nicht nur als Arbeitskollege, sondern, damals wie heute, zudem als sein bester Freund.
    Dass Shep nie studiert hatte, war seinem Vater noch immer ein Dorn im Auge, wenn auch unsinnigerweise; der Allrounder hatte expandiert und gedieh auch ohne akademischen Segen. Das eigentliche Problem war, dass Gabriel Knacker von körperlicher Arbeit nichts hielt – es sei denn, es ging darum, mit dem Friedenskorps für verarmte Dorfbewohner in Mali einen Brunnen auszuheben oder aus reiner Nächstenliebe einem Renter das Dach auszubessern. Für Geldangelegenheiten hatte er keinen Sinn. Er verurteilte jede Tätigkeit, die nicht in direktem Sinne tugendhaft war. Dass eine Welt, in der sich jeder nur dem Guten als Selbstzweck verschrieb, vermutlich rasant zum Stillstand käme, kümmerte den Mann nicht im Geringsten.
    Bis vor etwas mehr als acht Jahren hatte Leben A
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