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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Autoren: Lionel Shriver
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Berufs hatten Zimmerspringbrunnen etwas wunderbar Frivoles.
    Diese ausgefallene Freizeitbeschäftigung entstammte bestimmt nicht irgendeiner hochtrabenden Metapher für seinen Charakter, sondern ganz gewöhnlichen Kindheitsassoziationen. Jeden Juli hatten sich die Knackers eine Hütte neben einem rauschenden breiten Fluss in den White Mountains gemietet. Damals genossen Kinder noch das Privileg echter Sommer mit langen Strecken unverplanter Zeit, die sich bis in den diesigen Horizont hineinzogen. Eine Zeit, deren Endlosigkeit zwar eine Lüge, aber immerhin eine betörende Lüge war. Zeit zur Improvisation, Zeit, die man spielen konnte wie ein Saxofon. Also hatte er das Trällern von fließendem Gewässer stets mit Frieden, Gelassenheit und einem trägen Mangel an Druck verknüpft – in dessen Genuss die heutigen Kinder mit ihren Schulferienlagern, Nachhilfestunden, Fechtkursen und organisierten Spielterminen offenbar nicht mehr kamen. Und genau darum ging es ja im Jenseits, erkannte er nicht zum ersten Mal und schenkte sich einen weiteren Fingerbreit Bourbon ein. Er wollte seinen Sommer wiederhaben. Das ganze Jahr über.
    KEINE SONNTAGSSCHULKLASSE, KEINE christliche Jugendgruppe hatte bei ihm angeschlagen, aber eine der wirklich charakterbildenden Maßnahmen, die Gabriel Knacker seinem Sohn hatte angedeihen lassen, war die Reise nach Kenia, als Shep sechzehn war. Unter der Ägide eines Austauschprogramms der Presbyterianer hatte der Pastor eine temporäre Stelle als Lehrer in einem kleinen Seminar in Limuru angenommen, eine gute Autostunde von Nairobi entfernt, und die Familie mitgenommen. Zu Gabe Knackers Verzweiflung hatten nicht etwa seine tiefgläubigen Seminarschüler den stärksten Eindruck bei seinem Sohn hinterlassen, sondern der Lebensmittelkauf. Auf dem ersten Proviantierausflug hatten Shep und Beryl ihre Eltern zum örtlichen Markt begleitet, um Papayas, Zwiebeln, Kartoffeln, Maracujas, Bohnen, Zucchini, ein mageres Hühnchen und ein Riesenstück undifferenzierbares Rindfleisch zu kaufen: alles in allem genug Nahrung, um fünf Einkaufsnetze prall zu füllen. Stets die Finanzen im Blick – noch heute musste sich Shep von seinem Vater anhören, er denke immer nur ans Geld –, rechnete Shep im Kopf die Shillinge in Dollar um. Die ganze Fuhre hatte weniger als drei Dollar gekostet. Selbst für die Währungsverhältnisse von 1972 war das, für mehr als einen Wochenvorrat, eine lächerliche Summe.
    Shep hatte seine Bestürzung darüber zum Ausdruck gebracht – wie konnten die Händler mit so miserablen Preisen überhaupt Profit machen? Sein Vater hatte betont, dass diese Menschen sehr arm seien; ganze Landstriche des umnachteten Kontinents kämen mit weniger als einem Dollar pro Tag aus. Doch der Pastor räumte ebenfalls ein, dass die afrikanischen Bauern Pennybeträge für ihre Ware verlangen konnten, weil sie ihre Ausgaben ebenfalls in Pennybeträgen rechneten. Der Wert eines Dollars war demnach nichts Feststehendes, sondern relativ. Zu Hause in New Hampshire bekäme man dafür eine Schachtel Büroklammern, auf dem kenianischen Land ein zwar gebrauchtes, aber voll funktionstüchtiges Fahrrad.
    »Wieso nehmen wir dann nicht unser Erspartes und ziehen hierher?«, hatte Shep gefragt, während sie ihren Einkauf über den Feldweg der Farm schleppten.
    In einem seltenen Moment der Milde hatte Gabe Knacker seinem Sohn auf die Schulter geklopft und den Blick über die in flammende äquatoriale Sonne getauchten üppigen Kaffeefelder schweifen lassen. »Das frage ich mich auch.«
    Shep bekam die Frage nicht wieder aus dem Kopf. Wenn man in Ostafrika mit einem Dollar pro Tag zumindest über die Runden käme, wie gut ließe es sich dann erst mit zwanzig Dollar leben?
    Schon auf der Highschool hatte Shep mühsam nach Orientierung gesucht. Doch leider war er, genau wie heute sein Sohn Zach, in allen Fächern gut, aber in keinem hervorragend gewesen. In einer Zeit, die der Beherrschung des Abstrakten immer mehr Wert beimaß – bis zur benebelnden Welt der »Informationstechnologie« waren es nur noch zehn Jahre hin –, bevorzugte Shep diejenigen Aufgaben, deren Ergebnisse er sowohl im Kopf als auch mit den Händen nachvollziehen konnte: ein klappriges Geländer austauschen zum Beispiel. Doch sein Vater war ein gebildeter Mann und erwartete etwas anderes von seinem Sohn, als Handwerker zu werden. Mit seinem wässrigen Herzen hatte Shep als Kind nie rebelliert. In Anbetracht seiner Neigung zum Bauen und Reparieren
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