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Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)

Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)

Titel: Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
Autoren: Christiane zu Salm
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durch Übungen und Rollenspiele, so gut es eben ging, spüren zu lassen, wie es sich anfühlen musste, das Leben am Ende des Lebens. Und so unmöglich mir das anfangs zu sein schien, so sehr war ich jedes Mal doch erstaunt, wie vermittelbar dieses Gefühl ist, selbst wenn es nur simuliert wird.
    Einmal sollten wir zum Beispiel auf eine Papierkrawatte schreiben, was uns am allermeisten am Herzen liegt. Dann sollten wir uns die Krawatte um den Hals hängen. Anschließend gingen die Kursleiterinnen mit einer Schere im Kreis herum und schnitten schweigend Wort für Wort ab. Die Krawatte wurde immer kürzer, und als dann auch das letzte Wort, » Die Liebe meiner Kinder«, abgeschnitten wurde, schnürte es mir den Hals zu.
    » Loslassen« hieß die Übung. Kann man das üben?
    Ich lernte: Ja, man kann. Vorausgesetzt, man will.
    Je mehr Übungen ich mitmachte, desto dringlicher kam in mir die Frage hoch, ob ich das alles würde aushalten können, wenn es an die reale Begegnung mit dem Sterben ginge. Und nicht nur aushalten, sondern ob ich diesen Menschen auch wirklich etwas Sinnvolles würde geben können. Würde es mir tatsächlich gelingen, im richtigen Moment das Richtige zu tun oder zu lassen? Was würde passieren, wenn ich etwas Unangebrachtes tun oder sagen würde? Oder wenn ich spüren würde, dass ich in einer bestimmten Situation an meine Grenzen käme, wenn ich die Traurigkeit zum Beispiel zu nahe an mich herankommen ließe?
    Auf einem weiteren Übungszettel, der an uns ausgeteilt wurde, stand: » Wann sagen wir, ist jemand sterbend? Ab wann nimmt sich ein Mensch als ›sterbend‹ wahr? Wann sagen andere, jemand ›liegt im Sterben‹? In gewisser Weise sind wir vom Tag unserer Geburt an ›Sterbende‹: Wir gehen unaufhaltsam dem Tod entgegen. Versuchen Sie, mit eigenen Worten zu beschreiben, wann Sie einen Menschen als ›sterbend‹ bezeichnen würden.«
    Ich schrieb: » Als sterbend wahrgenommen wird, wessen Körper bald aufhört zu sein. Erst dann wird Außenstehenden bewusst: Jemand stirbt.« Und beim Schreiben merkte ich, wie lange man über diese Frage eigentlich nachdenken kann und wie viele unterschiedliche Antworten hier möglich sind.
    So war es dann auch: Jeder schrieb etwas anderes– und jeder Gedanke dazu hatte seine Berechtigung. Und zum ersten Mal begriff ich, dass es bei der Sterbebegleitung kein grundsätzliches Richtig oder Falsch gibt. Dass es keine ausschließliche Wahrheit gibt. Dass man nur versuchen kann zu lernen, sterbenden Menschen so zu begegnen, dass sie in ihrer letzten Lebensphase noch einmal die Möglichkeit erhalten, zu sich zu kommen. Es geht um die innere Lösung des Sterbenden, um seinen inneren Weg, nicht mehr um einen äußeren. Dazu gehört, dass man als Begleitender weder selbst Lösungen anbietet noch die geäußerten Gefühle bewertet.
    Eine der beiden Kursleiterinnen erzählte in diesem Zusammenhang einmal, dass ein sterbender Mann kurz vor seinem Tod zu ihr gesagt habe: » Wissen Sie, Sie sind die einzige Person, die mir nicht geantwortet hat: ›Sie müssen keine Angst haben‹, als ich sagte: ›Ich habe große Angst vor dem Sterben.‹ Das hat mir unheimlich geholfen. Ich konnte von meiner Angst erzählen. Sie wurde ernst genommen.«
    Ein ganzes Wochenende lang beschäftigten wir uns deshalb mit verbaler und nonverbaler Kommunikation. Haben Sie schon einmal eine Viertelstunde jemandem gegenübergesessen und ihm total uneingeschränkt und ohne jede Rückmeldung zugehört? Also ohne zu nicken, ohne jede andere zustimmende oder widersprechende Geste, ohne gleich den vielen eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen, die einem unweigerlich in den Kopf schießen bei dem Gehörten? Ohne ungeduldig darauf zu warten, endlich selbst wieder reden zu dürfen? Auf diese Weise mit ausschließlicher Konzentration auf sein Gegenüber zuzuhören ist gar nicht so leicht, wie es sich anhört.
    In einer weiteren Übung sollte sich abwechselnd jeder Kursteilnehmer eine halbe Stunde lang auf den Boden legen und schweigen. Ein anderer sollte dann diesen Teilnehmer, der einen Wachkoma-Patienten simulieren sollte, berühren. Es war eindrucksvoll, wie sich das anfühlte. Weil man, wenn man so regungslos daliegt, das Ausgeliefertsein an andere unglaublich intensiv zu spüren bekommt. Stellen Sie sich einfach vor, Sie könnten nicht mehr entscheiden, wer Ihre Hand hält, wer Sie an welcher Körperstelle streichelt. Für mich ist das ein sehr unangenehmer Gedanke. Umso mehr kommt es daher darauf
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