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Dieser Mann ist leider tot

Dieser Mann ist leider tot

Titel: Dieser Mann ist leider tot
Autoren: Michael Bishop
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oft einen physiologischen Grund – meistens, genauer gesagt.«
    »Meine nicht. Meine ist ein Mechanismus, der dazu dient, wirklich schmerzhaften Scheiß hinter mich zu bringen, damit ich mich nicht damit befassen muß.«
    »Ich weiß zu schätzen, daß Sie mein Klient sein möchten. Wahrscheinlich haben Sie aufgrund der Scharen von Leuten in meinem Wartezimmer schon vermutet, daß ich bis zum Hals in Arbeit stecke. Aber ich halte mich immer noch an gewisse Maßstäbe.«
    Der Mann auf dem Sofa hatte die Hände über dem Bauch verschränkt und sah sie einfach an. Belustigt, wie ihr schien.
    »Und wenn Sie wissen, daß Ihre Amnesie ein Mechanismus zur Verdrängung von Schmerz ist«, sagte sie vorwurfsvoll, »dann ist es wahrscheinlich keine radikale Amnesie. Immerhin ist Ihnen von Ihrer früheren Persönlichkeit so viel doch in Erinnerung geblieben.«
    »Wenn es eine Totalamnesie wäre, Doktor, dann wäre ich nicht hier. Dann läge ich in Embryonalhaltung irgendwo an einer Straßenecke.«
    »Sie sind also hergekommen in dem Bewußtsein, daß Sie unter Amnesie-Anfällen leiden; was haben Sie sich denn dabei genau gedacht?«
    Er lachte. »Ich danke Ihnen. Sie gestehen mir also zu, daß ich es kann – denken, meine ich –, und dafür bin ich dankbar.«
    »Kein Lob, kein Tadel«, sagte Lia und erschrak. Woher war diese Spruchweisheit gekommen?
    »Aber gedacht habe ich mir folgendes, Doktor: Ich wollte Ihr Gebet beantworten und mir selbst helfen. Sie können mir bei beidem behilflich sein, indem Sie mir den Weg zur Anamnese zeigen.«
    »Zur Anamnese?« Kurioser und kurioser, dachte Lia.
    »Wörtlich: Verlust der Amnesie. Erlösung durch Wissen, oder Gnosis. Sie entsinnen sich hoffentlich, daß Platon das Lernen lediglich für eine Form des Erinnerns hielt.«
    »Und ich soll Ihnen helfen, sich an Ihr Leben zu erinnern, damit Sie lernen können, wer Sie sind? Ist es das?«
    »Zur Hälfte, schätze ich. Die andere Hälfte ist schwieriger.«
    »Schwieriger, als Sie von Ihrer Amnesie zu kurieren? Oder – um in Ihrer Terminologie zu bleiben – Sie zur Anamnese zu führen?«
    »Exactamente, señorita hermosa.«
    Vielleicht kann ich ihm helfen, überlegte Lia, zog die Hände zwischen den Knien hervor und legte sie auf die Löschblattunterlage, als wolle sie damit ihre Sympathie für diesen wunderlichen Menschen kundtun. Vielleicht kann ich es. Und eben das muß ich auch tun, wenn ich mich als Psychologin bezeichnen und mir damit meinen Lebensunterhalt verdienen will. Ich kann ihn nicht zwingen, ins Krankenhaus zu gehen, wenn er nicht will, und es wäre unethisch, ihn wegzuschicken, wenn er wirklich von mir behandelt werden will. Aber hat er Geld? Ist es schäbig, wenn ich mich frage, ob er bezahlen kann?
    Lia stählte sich. »Ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von mir, aber ich muß wissen, ob Sie sich eine Therapie leisten können.«
    »Ich denke nicht schlecht von Ihnen. Geld ist eines der Fakten des Lebens. Vermutlich ist es auch eines der Fakten des Todes.«
    Lia wartete ab. Ich habe ihn nicht beleidigt, dachte sie; aber was soll ich mit dieser aphoristischen kleinen Antwort anfangen?
    »Früher einmal«, sagte er und wechselte seine Haltung auf der Couch, um in seine Gesäßtasche greifen zu können, »früher war Geld ein Problem in meinem Leben. Das kann ich nicht vergessen. Aber heute bin ich anscheinend flüssig.«
    Er warf Lia seine Brieftasche zu. Sie rutschte über ihre Schreibtischunterlage, prall von Geldscheinen verschiedenen Werts. Sie brauchte sie nicht erst in die Hand zu nehmen, um zu wissen, daß ihr Klient – den ›Klienten‹ mit einem Possessivpronomen zu versehen, kam ihr nicht mehr töricht vor – mehr als ›flüssig‹ war: Er kam Dagobert Duck so nah wie nur irgend jemand, dem sie bisher begegnet war. Gleichwohl war es demütigend, wenn einem eine Brieftasche vorgeworfen wurde, als sei man ein Hund, der auf einen Kotelettknochen lauerte.
    Dann aber nahm sie die Brieftasche; sie hatte eine Idee. »Moment mal. Haben Sie denn nicht irgendeinen Ausweis hier drin? Einen Führerschein? Kreditkarten? Irgend etwas, das eine … äh … Anamnese in Gang setzen könnte?«
    »Nein, Miss. Nur Geld. Aber schauen Sie ruhig rein.«
    Kurioser und kurioser ist absolut untertrieben, dachte Lia bei sich, als sie sah, daß die Brieftasche kein Plastik enthielt, keine Fotos, nicht einmal einen Bibliotheksausweis. Nur Geld.
    »Woher kommt das alles?« fragte sie.
    »Ich weiß es nicht genau. Aber ich hab’s nicht
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