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Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)

Titel: Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
Autoren: Mitch Albom
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fühlen, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Dann sah er mir direkt in die Augen.
    »Liebe … dich«, sagte er rauh.
    »Ich liebe dich auch, Coach.«
    »Ich weiß, daß du … noch etwas anderes … weißt …«
    »Was denn?«
    »Du … hast immer …«
    Seine Augen wurden klein, und dann weinte er, wobei sich
sein Gesicht wie das eines Babys verzog. Ich hielt ihn mehrere Minuten lang in meinen Armen. Ich rieb seine schlaffe Haut. Ich streichelte sein Haar. Ich legte eine Handfläche gegen sein Gesicht, und ich fühlte die Knochen dicht unter dem Fleisch und die winzigen nassen Tränen, als hätte jemand sie aus einem Tropfer herausgedrückt.
    Als sein Atem wieder normal wurde, räusperte ich mich und sagte, ich wisse, daß er müde sei, deshalb würde ich am nächsten Dienstag wiederkommen, und ich erwarte, daß er dann ein bißchen munterer wäre, bitteschön. Er schnaubte leicht, und es klang fast wie ein Lachen. Aber trotzdem war es ein trauriges Geräusch.
    Ich nahm die ungeöffnete Tasche mit dem Tonbandgerät hoch. Warum hatte ich das überhaupt mitgebracht? Ich hatte gewußt, daß wir es nicht benutzen würden. Ich beugte mich über ihn und küßte ihn, mein Gesicht an seinem, Schnauzbart an Schnauzbart, Haut an Haut, und ließ mein Gesicht dort ruhen, länger als normal, in der Hoffnung, daß ihm dies wenigstens für den Bruchteil einer Sekunde Freude bereiten würde.
    »Alles in Ordnung?« sagte ich, mich aufrichtend.
    Ich blinzelte die Tränen fort, und als er mein Gesicht sah, schmatzte er mit den Lippen und hob die Augenbrauen. Mir gefällt der Gedanke, daß dies für meinen alten Professor bestimmt ein kleiner Triumph war: Er hatte endlich bewirkt, daß ich weinte.
    »Alles in Ordnung«, flüsterte er.



Die Abschlußprüfung
    Morrie starb am Samstagmorgen.
    Seine engsten Familienmitglieder waren bei ihm. Rob war aus Tokio angereist, Jon war da und natürlich Charlotte. Und Charlottes Cousine Marsha, die das Gedicht geschrieben hatte, das Morrie bei seiner »lebendigen Beerdigung« so sehr bewegt hatte, das Gedicht, in dem er mit einem »zarten Mammutbaum« verglichen wurde. Sie schliefen abwechselnd neben seinem Bett. Morrie war zwei Tage nach meinem letzten Besuch ins Koma gefallen, und der Arzt sagte, er könne uns jeden Moment verlassen. Statt dessen lebte er tapfer weiter, noch einen harten Nachmittag, noch eine dunkle Nacht lang.
    Schließlich, am vierten November, als seine Familie nur für einen Augenblick den Raum verlassen hatte, um in der Küche rasch eine Tasse Kaffee zu trinken – dies war das erste Mal, daß niemand bei ihm war, seit das Koma eingesetzt hatte –, hörte Morrie auf zu atmen.
    Und dann war er nicht mehr bei uns.
    Ich glaube, daß er dies mit Absicht getan hat. Ich glaube, er wollte uns den schrecklichen Moment ersparen. Er wollte nicht, daß jemand Zeuge seines letzten Atemzuges wurde und diesen dann nie wieder vergessen konnte, so wie er selbst einige schlimme Dinge nicht vergessen konnte: das Telegramm, das die Nachricht vom Tod seiner Mutter brachte, oder die Leiche seines Vaters im Leichenschauhaus.
    Ich glaube, er wußte, daß er in seinem eigenen Bett lag, mit seinen Büchern und seinen Notizen in der Nähe. Er hatte in heiterer Gelassenheit gehen wollen, und so ging er dann auch.
    Die Beerdigung fand an einem feuchten, windigen Morgen statt. Das Gras war naß, und der Himmel hatte die Farbe von Milch. Wir standen neben dem Loch in der Erde, nahe genug, um zu hören, wie das Wasser des Teichs gegen das Ufer plätscherte, und um Enten zu sehen, die ihre Federn abschüttelten.
    Zwar hatten Hunderte von Menschen an der Beerdigung teilnehmen wollen, aber Charlotte sorgte dafür, daß die Trauergemeinde klein blieb: nur ein paar nahe Freunde und Verwandte. Rabbi Axelrad las ein paar Gedichte vor. Morries Bruder David – der von der Kinderlähmung, die er als Kind gehabt hatte, noch immer ein wenig hinkte – hob die Schaufel und warf der Tradition entsprechend Erde in das Grab.
    Einmal, als Morries Urne in die Erde gesenkt wurde, schaute ich mich auf dem Friedhof um. Morrie hatte recht.
Es war tatsächlich ein hübsches Fleckchen Erde: Bäume und Gras und ein sanft abfallender Hügel.
    »Du redest, ich werde zuhören« , hatte er gesagt.
    Ich versuchte, das im Geiste zu tun, und war freudig überrascht, als ich entdeckte, daß das imaginäre Gespräch mir fast natürlich vorkam. Ich schaute auf meine Hände hinab, sah meine Armbanduhr und erkannte,
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