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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen
Autoren: Gene Wolfe
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lauschte. Bis auf mein keuchendes Atmen und das Pochen meines fliegenden Pulses in den Ohren war kein Laut zu hören.
    Schließlich bemerkte ich ein drittes Geräusch: das schwache Summen einer Fliege. Ich wischte mir mit dem Saum meines Gildenmantels das schweißüberströmte Gesicht ab. Dieser Mantel war nun arg abgetragen und gebleicht, und mit einemmal wurde ich gewahr, daß es derselbe war, den Meister Gurloes um meine Schulter gehängt hatte, als ich Geselle wurde, und daß ich wahrscheinlich in ihm sterben würde. Der Schweiß, den er aufgesogen hatte, war kalt wie Tau, und die Luft war schwer mit dem Duft feuchter Erde beladen.
    Das Summen der Fliege verstummte und erklang abermals – vielleicht ein bißchen lauter, vielleicht lediglich lauter wirkend, weil ich nicht mehr außer Atem war. Geistesabwesend blickte ich mich danach um und sah das Insekt ein paar Schritte entfernt durch die Sonnenstrahlen schwirren, woraufhin es sich auf einem braunen Gegenstand niederließ, der hinter einem der dicht stehenden Bäume hervorlugte.
    Einem Stiefel.
    Ich besaß keinerlei Waffen. Normalerweise wäre ich recht unerschrocken einem einzelnen Mann mit bloßen Händen entgegengetreten, insbesondere an einem Ort wie diesem, wo’s unmöglich wäre, ein Schwert zu schwingen; aber ich wußte, daß ich viel von meiner Kraft eingebüßt hatte, und stellte fest, daß Fasten zum Teil auch den Mut schmälert oder vielleicht lediglich einen Teil davon aufzehrt, so daß für andere Gefahren weniger übrigbleibt.
    Wie dem auch sei, zögernd schlich ich, einen Bogen machend, heran, bis ich ihn sah. Er lag auf dem Boden, ein Bein unter sich abgewinkelt, das andere ausgestreckt. Ein Krummschwert, dessen Lederschlaufe noch um sein Handgelenk hing, war neben seiner Rechten auf die Erde gefallen. Seine einfache Sturmhaube war ihm vom Kopf gerollt. Die Fliege kletterte über seinen Stiefel, bis sie das nackte Fleisch unter seinem Knie erreichte, und flog dann wieder auf, wie eine winzige Säge surrend.
    Ich erkannte natürlich sofort, daß er tot war, und obgleich mich das mit Erleichterung erfüllte, überkam mich wieder das Gefühl der Einsamkeit, das sich gelegt hatte, ohne daß ich es gemerkt hätte. Ich packte ihn an der Schulter und drehte ihn um. Er war noch nicht gedunsen, aber fing schon zu riechen an. Sein Gesicht war aufgeweicht wie eine Maske aus Wachs am Feuer; es war nicht mehr zu erkennen, mit welchem Ausdruck er gestorben war. Jung und blond war er gewesen – eines jener hübschen, markanten Gesichter. Ich suchte nach einer Wunde, fand aber keine.
    Die Gurte seines Tornisters saßen so stramm, daß ich ihn weder abziehen noch die Schnallen lösen konnte. Schließlich zog ich den Dolch von seinem Bauchgurt, durchtrennte sie und rammte die Spitze in einen Baumstamm. Eine Decke, ein Stück Papier, eine rußige Stielpfanne, zwei Paar grobe Wollsocken (sehr willkommen), und als Bestes eine Zwiebel, ein halber Laib dunkles Brot, in ein reines Tuch eingeschlagen, fünf Streifen Dörrfleisch und ein Batzen Käse, ebenfalls eingewickelt.
    Ich aß zuerst Brot und Käse, wobei ich mich, nachdem ich festgestellt hatte, daß ich nicht langsam essen konnte, dazu zwang, nach jedem dritten Bissen aufzustehen und hin und her zu gehen. Das Brot half mir dabei, denn es wollte kräftig gekaut sein. Es schmeckte haargenau wie das harte Brot, das unsere Klienten im Matachin-Turm bekamen und das ich ab und zu mehr aus Schalkheit denn vor Hunger gestohlen hatte. Der trockene, stinkende, salzige Käse schmeckte trotz allem vorzüglich; noch nie hatte ich meines Erachtens solchen Käse gekostet – und seither, wie ich weiß, nicht wieder. Es war wie Leben zu essen. Ich bekam Durst und erfuhr, wie durststillend eine Zwiebel wirkte, indem sie den Speichelfluß anregt.
    Als ich zum Fleisch kam, das ebenso stark gesalzen war, war ich schon so gesättigt, daß ich erste Überlegungen anstellen konnte, ob ich es für den Abend aufsparen sollte, und beschloß dann, ein Stück zu essen und die übrigen vier aufzuheben.
    Es hatte sich seit dem frühen Morgen kein Lüftchen geregt, nun aber wehte eine leichte Brise, die mir die Wangen kühlte, raschelnd durchs Laub fuhr und das Stück Papier erfaßte, das ich dem Tornister des toten Soldaten entnommen hatte, so daß es übers Moos purzelte und an einem Baumstamm zu liegen kam. Noch kauend und schluckend, setzte ich hinter ihm her und hob es auf. Es war ein Brief, den er offenbar nicht hatte abschicken oder
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