Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
etwas bei sich tragen müsse, also durchsuchte ich seine Taschen und fand ein paar Aes, ein beziffertes Pendel zum Bestimmen der Zeit und eine Zunderbüchse. Dürres Zweigwerk und Laub lag zur Genüge unter den Bäumen – ich mußte aufpassen, nicht alles in Brand zu setzen. Also räumte ich mit den Händen eine Stelle frei, schichtete in der Mitte einen Haufen auf, zündete ihn an und schürte mit trockenen Ästen, die ich gesammelt und in Stücke gebrochen hatte.
    Sein Schein war unerwartet hell – der Tag neigte sich, und es würde bald dunkel. Ich blickte zum Toten. Seine Hände zuckten nicht mehr; er lag still. Die Haut seines Gesichts wirkte wärmer. Aber das rührte wohl nur vom Feuer her. Der Blutfleck auf seiner Stirn war fast trocken, glänzte jedoch im letzten Sonnenlicht wie ein rubinroter Edelstein. Obgleich unser Feuer nicht viel Rauch gab, duftete der wenige köstlich wie Räucherwerk und stieg wie Räucherwerk gerade empor, bis er sich in der sich herabsenkenden Dunkelheit verlor, was mich an etwas gemahnte, woran ich mich nicht mehr erinnern konnte. Kopfschüttelnd suchte ich mehr Holz, das ich in Stücke brach und aufschichtete, bis ich einen Stoß hatte, der wohl für die Nacht reichen würde.
    Die Abende waren hier in Orithyia nicht annähernd so kalt wie in den Bergen oder am See Diuturna, so daß ich die Decke, die ich im Ranzen des Toten gefunden hatte, nicht zu benötigen glaubte, obzwar ich sie nicht vergessen hatte. Vom Holzmachen war mir warm geworden, und das Essen hatte mich gestärkt. Eine Weile schritt ich in der Dämmerung auf und ab und schwang kühn das Krummschwert, wenn solche kriegerische Gesten zu meinen Gedanken paßten, achtete aber darauf, daß das Feuer stets zwischen dem Toten und mir lag.
    Meine Erinnerungen sind stets fast so intensiv und mitreißend wie Halluzinationen, wovon in dieser Chronik schon oft die Rede gewesen ist. In jener Nacht nun glaubte ich, mich für immer darin zu verlieren und aus der Bahn meines Lebens einen Kreis zu machen; und diesmal sträubte ich mich nicht dagegen, sondern schwelgte darin. Alles, was ich euch geschildert habe, und tausend Dinge mehr strömten auf mich ein. Ich sah Eatas Gesicht und seine sommersprossige Hand, die zwischen die Gitterstäbe am Tor der Nekropolis glitt, und das Gewitter, das einst zwischen den Türmen der Zitadelle wütete und seine Blitze verschleuderte; ich spürte seinen Regen, kälter und frischer als der Morgentrunk in unserm Refektorium, über mein Gesicht rinnen. Dorcas flüsterte mir ins Ohr: »Am Fenster sitzen … Schalen und ein Kreuz. Was willst du tun – eine Erinnye rufen, um mich zu vernichten?«
    Ja. In der Tat, ja, das hätf ich, könnt’ ich’s. Wäre ich Hethor gewesen, hätte ich sie von jenseits der Welt geholt, Vögel mit dem Kopf einer alten Hexe und der Zunge einer Natter. Auf mein Geheiß hätten sie die Wälder wie Korn niedergedroschen und die Städte mit ihren großen Schwingen in den Boden gestampft … Und dennoch wäre ich, hätt’ ich’s vermocht, im letzten Augenblick erschienen, um sie zu retten – ohne nachher kühl davonzugehen, wie wir alle es uns als Kinder wünschen, wenn wir uns einbilden, jemand Teures zu retten und zu erniedrigen, der uns angeblich gekränkt hat, sondern sie in die Arme zu schließen.
    Nun verstand ich zum ersten Mal, wie schlimm es wohl sein müßte für sie, die fast noch ein Kind gewesen war, als der Tod sie ereilte, und die so lange tot gewesen war, zurückgerufen worden zu sein.
    Bei diesen Gedanken fiel mir wieder der tote Soldat ein, dessen Essen ich verspeist hatte und dessen Schwert ich führte, und ich hielt inne, um zu lauschen, ob er atme oder sich rege. Freilich war ich so in der Welt der Erinnerung verloren, daß ich glaubte, der weiche Waldboden unter meinen Füßen stamme aus dem Grab, das Hildegrin der Dachs für Vodalus geplündert habe, und das Rauschen der Wipfel sei das Ächzen der Zypressen in unserer Nekropolis und das Rascheln der rotblühenden Rosen, und ich lauschte, lauschte vergeblich nach dem Atem der toten Frau, die Vodalus mit einem Seil unter ihren Armen heraufgezogen hatte in ihrem weißen Totenhemd.
    Als schließlich ein Ziegenmelker krächzte, kam ich wieder zu mir. Ich sah das bleiche Gesicht des toten Soldaten und ging ums Feuer herum, um nach der Decke zu suchen, womit ich dann seinen Leib bedeckte.
    Dorcas gehörte, wie ich nun erkannte, zu jener großen Gruppe von Frauen (worunter vielleicht alle Frauen fallen),
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher