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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl
Autoren: Daniela Larcher
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Einfach so. Vier Stockwerke tief. Ich bin nach Hause gefahren und habe darauf gewartet, dass die Polizei mich holen kommt, aber nichts geschah. Keiner hatte mich gesehen, und alle dachten, dass Susanne sich umgebracht hätte. Niemanden hat es nach ihrem ewigen Klagen und Quengeln gewundert, dass sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.« Iris grinste.
    »Hast du denn überhaupt kein schlechtes Gewissen? Keine Schuldgefühle?« Lorentz wollte nicht, dass sie aufhörte zu reden. Solange sie erzählte, stapelte sie keine Bücher auf ihn. Er musste auf Zeit spielen, vielleicht würden sich ja die Partygäste auf die Suche nach ihm machen.
    »Natürlich hatte ich die am Anfang, aber dann bekam ich all diese Zeichen.«
    »Was für Zeichen?« Lorentz’ Worte waren kaum mehr zu verstehen.
    »Ich habe mir die Tarotkarten gelegt. Und zwar dreimal. Jedes Mal war die XII , der Gehängte, meine Schicksalskarte.« Iris griff nach einem Buch über den Tarot, das bereits neben ihr lag. Sie blätterte kurz darin und hielt es Lorentz dann unter die Nase, sodass er die Abbildung der Karte XII sehen konnte. Auf der Illustration war ein Mann mit dem Kopf nach unten aufgehängt.
    »›Der Gehängte steht für die Sackgasse, in der wir stecken bleiben, oder für die Falle, in die wir treten, wenn wir auf dem falschen Weg sind‹«, fing Iris an vorzulesen. »›Er steht für große Krisen und auswegloses Festsitzen, sich selbst im Weg stehen, sinnlosen Leerlauf und für Zermürbung. Im Mittelalter war das umgekehrte Aufhängen die Strafe für Verräter, und die Bedeutung der Karte ist tatsächlich Verrat: Verrat an der eigenen Sache, Verrat an sich selbst.‹« Iris schloss das Buch und legte es auf Lorentz. »Und das alles geschah am 12 .Dezember. Am zwölften Tag des zwölften Monats. Das war kein Zufall. Das war Schicksal. Verstehst du jetzt?«
    Lorentz bekam kaum mehr Luft. Er fühlte, wie ihm langsam schwindelig wurde, versuchte aber trotzdem zu sprechen. »Du hattest gerade deine Freundin umgebracht. Das war ein riesiger Schock für dich. Deine Schuldgefühle müssen überwältigend gewesen sein, darum hast du verzweifelt versucht, eine Rechtfertigung für die Tat zu finden. Das waren keine Zeichen. Das waren Zufälle. Wenn es nicht eine Tarotkarte gewesen wäre, hättest du etwas anderes gefunden.«
    »Nein!« Iris’ schönes Gesicht verzerrte sich zu einer grausigen Fratze. »Du wolltest es ja nie einsehen, aber ich bin etwas ganz Besonderes. Ich habe ein Ziel, eine Mission.«
    »Du machst einen Riesenfehler! Lass mich gehen«, bat Lorentz leise. Er spürte, dass er kurz davor war, bewusstlos zu werden.
    »Ja, fang nur an zu betteln und zu wimmern. Joe hat sich in die Hosen geschissen vor lauter Angst. Also nur zu!«
    »Bitte, komm zur Vernunft!« Lorentz wollte sie umstimmen,
aber innerlich wusste er, dass Appelle an ihre Vernunft sinnlos waren. Iris war völlig durchgedreht. Warum war ihm das vorher nicht aufgefallen? Sie war irre, klammerte sich an irgendwelche Hirngespinste und hatte sich in ihre ganz eigene Welt zurückgezogen. Eine Welt, in der sie Richter, Henker und Rettung der Menschheit zugleich war.
    »Halt endlich den Mund!«, sagte sie und begann, Bücher auf sein Gesicht zu stapeln.

»Einen Stein, den zwölf Männer mühlich trügen,
wirft sie zwölf Klafter weit.«
    Nibelungenlied
    »Was?« Capelli wollte ihren Ohren nicht trauen. »Was hast du da gerade gesagt?«
    »Pssst«, Morell hob beschwichtigend die Hände. »Du hast versprochen, keinen Aufstand zu machen.«
    »Das war, bevor du mir erzählt hast, dass Leander womöglich in Lebensgefahr schwebt.«
    »Bitte beruhige dich.« Er schob Capelli einen Stuhl hin und brachte sie mit sanftem Druck dazu, sich zu setzen.
    »Aber Sascha hat doch gestanden«, stammelte sie und blickte zu ihm hoch.
    »Ja, das stimmt schon, aber es gibt da einige Ungereimtheiten, die mir schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gehen wollen.«
    »Und die wären?«
    »Das Offensichtlichste zuerst: Sascha hat überhaupt keinen Bezug zu Leander. Warum also die Briefe?«
    »Ist doch ganz logisch. Er wollte gestoppt werden.«
    »Aber warum Leander? Warum nicht ich? Oder Bender? Oder der Bürgermeister?«
    Capelli überlegte, aber ihr fiel keine Antwort ein. »Wir müssen
Leander finden«, sagte sie und spürte, wie ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten.
    »Ja, natürlich«, versuchte Morell sie ein wenig zu beruhigen und tätschelte ihren Kopf. »Dann zweitens: Die Hausdurchsuchung bei
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