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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl
Autoren: Daniela Larcher
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war er doch schon längst tot! Sein Tod war eine Erlösung. Für ihn und für alle Menschen in seiner Umgebung. Er hatte schon begonnen, andere mit in sein Unglück hineinzuziehen.«
    »Du lügst«, japste Lorentz.
    »Oh nein, ich sage die Wahrheit und das weißt du! Du hattest sicher auch schon mit Menschen zu tun, die grundlos gemein zu dir waren. So einer war Joe. So waren auch die anderen. Sie haben sich selbst schon so sehr verabscheut, dass sie auch für andere Menschen nichts als Verachtung übrighatten.«
    Lorentz versuchte Luft zu holen, seine Atmung ging sehr flach. »Aber nicht jeder kann seine Träume erfüllen. Nicht jeder kann ein Superstar oder ein Nobelpreisträger werden.«
    Iris verschwand und tauchte einige Sekunden später wieder auf. In ihren Händen hielt sie ein großes, in schwarzes Leder gebundenes Buch. »Eine Bibel«, sagte sie. »Im Evangelium von Matthäus gibt es ein schönes Gleichnis, warte kurz ...« Sie begann zu blättern. »Ah, ich habe es gefunden, es heißt ›Das Gleichnis vom anvertrauten Geld‹. ›Es ist wie mit einem Mann, der auf Reisen ging‹«, begann sie vorzulesen. »›Er rief seine Diener und vertraute ihnen sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten. Dann reiste er ab. Sofort begann der Diener,
der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu. Ebenso gewann der, der zwei erhalten hatte, noch zwei dazu. Der aber, der das eine Talent erhalten hatte, ging und grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit kehrte der Herr zurück, um von den Dienern Rechenschaft zu verlangen.‹«
    »Ich kriege kaum noch Luft«, keuchte Lorentz.
    »Na gut, dann werde ich es für dich ein bisschen abkürzen. Die Moral von der Geschichte ist, dass der Herr jenen Diener aus seinem Haus werfen lässt, der das Geld in der Erde begraben hatte. Er bestraft ihn dafür, dass er nicht einmal versucht hat, sein Talent einzusetzen und mehr daraus zu machen. Darum geht es. Es ist in Ordnung, das Ziel nicht ganz zu erreichen oder gar zu scheitern. Rückblickend kann man trotzdem stolz und zufrieden mit sich sein. Denn man hat es wenigstens versucht.« Iris schloss die Bibel und legte sie auf die anderen Bücher. Lorentz stöhnte unter dem Gewicht der neuen Last.
    »Tu mir das nicht an«, flehte er.
    »Ich habe es den anderen auch angetan, und es war gut so. Warum soll ich bei dir eine Ausnahme machen? Du wirst an deinen geliebten Büchern ersticken. Ist das nicht eine wunderbare Ironie?«
    »Warum die Zwölf?«, versuchte Lorentz Zeit zu gewinnen.
    Anscheinend hatte er genau ins Schwarze getroffen, denn Iris hörte auf, Bücher aus dem Regal zu holen, und setzte sich im Schneidersitz neben ihn.
    »Sie ist ein Zeichen, das mir gegeben wurde. Alles begann am 12 . 12 . vor zwei Jahren. Ich war bei Susanne zu Besuch.« Iris verdrehte die Augen. »Ständig hat sie nur gejammert. ›Mir geht’s nicht gut; ich bin so arm; ich hasse meinen Job; meine Kollegen sind so blöd.‹ Die ganze Zeit über hat sie sich beklagt. Über die Arbeit, das Wetter, die Nachbarn, das Fernsehprogramm. Immer hatte sie diesen weinerlichen Tonfall in ihrer Stimme, andauernd war sie nur auf der Suche nach Mitleid für ihre kleinen, blöden,
unwichtigen Problemchen. Es war zum Kotzen. Sie hat die Menschen in ihrer Umgebung als emotionale Mistkübel benutzt, ihnen ihre Zeit gestohlen und die Energie ausgesaugt. Nehmen war alles, was sie konnte. Die Probleme von anderen hat sie komplett ignoriert. Und weißt du, was das Allerschlimmste war? Dieses ständige ›hätte ich doch nur‹, ›wenn ich damals doch nur‹ ...«
    Lorentz röchelte.
    »Oh, ich rede hier und rede, dabei hast du ja nicht mehr viel Zeit. Wie konnte ich das nur vergessen? Ich werde mich kürzer fassen. Ich hatte die Schnauze voll von Susanne. Ich bin an dem Tag zu ihr gefahren, um ihr einmal ordentlich den Kopf zu waschen. Das Gespräch ist in einen Streit ausgeartet, und sie hat mir eine Ohrfeige gegeben. Na ja, was soll ich sagen – dann kam das Schicksal ins Spiel. Wir standen in der Küche, und die Tür zum Balkon war offen. Susanne wollte kurz lüften, weil sie vorher Zwiebeln gebraten hatte. Verstehst du? Wie groß ist die Chance, dass mitten im Dezember die Balkontür offen steht? Wir haben gerangelt, ich wollte sie von mir wegstoßen, und sie ist über das Geländer gefallen.
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