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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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doch: Goethe weiß um meine Gesundheit. Wenn es wirklich nur darum ginge, ein schreiendes Kind zu hüten, hätte er für diese Aufgabe sicher keinen Herzkranken empfohlen. Zudem gibt es sicher auch in Karlsruhe Ammen.«
    »Ich traue ihm nicht. Ich habe ihm nie getraut. Nicht nach dem, was damals geschah.«
    »Er ist kein schlechter Mensch.«
    Jakob lachte gehässig. »Das war sicher auch Schillers letzter Gedanke, als er das Gift seines Freundes trank und starb.«*
    »Du kennst seine Motive«, widersprach ich, doch mir war klar, wie schal das klang. Ein Mord blieb ein Mord, auch wenn man ihn verübte, um die Welt zu retten.
    »Seine Motive! Ha! Welche Motive leiteten ihn, als er dich hierher entsandte?«
    »Er hat immerhin einiges gutzumachen.«
    Jakob schlug mit der Faust auf die Kommode, so heftig, dass das Waschwasser aus der Schüssel schwappte. »Nicht er«, rief er aus, »nicht der ›große Dichter‹. Goethe rechtfertigt sich nur vor sich selbst, und wenn er etwas gutzumachen hat, dann nur an seinem schlechten Gewissen.«
    Ich zuckte die Achseln. »Mag er sein Gewissen beruhigen, was kümmert’s mich? Es ist zu meinem Besten.«
    »Das muss sich erst noch erweisen.« Er seufzte, nun ein wenig ruhiger. »Wenn du so lange abwarten willst, bitte schön. Ich habe einen Posten auszufüllen. Ich muss zurück nach Kassel.«
    »Und die Märchenfrau?«
    »Können wir morgen Früh aufsuchen. Spätestens übermorgen reise ich ab.«
    Ein kurzes Schweigen trat ein. Da fiel mir plötzlich etwas auf.
    »Hörst du das?«, fragte ich.
    Jakob lauschte. Dann nickte er und sprang vom Bett. »Was ist das?«
    Wir eilten zum Fenster, denn das Geräusch kam von außerhalb des Schlosses. Geschwind zogen wir die Riegel beiseite und klappten das Fenster auf. Schnee wehte aus der Dunkelheit ins Zimmer.
    Es war ein klagender, lang anhaltender Laut, der auf und ab schwoll und niemals abbrach. Er drang aus dem offenen Fenster eines Wohnhauses auf der anderen Seite der Straße, die an den vorderen Schlossgarten grenzte. Alle übrigen Scheiben des Häuserblocks waren geschlossen. Kerzenschein warf den gebeugten Schatten einer Gestalt gegen die Rückwand des einsamen Zimmers. Mehr war durch das Schneegestöber nicht zu erkennen.
     
    * Nachzulesen in Kai Meyer, Die Geisterseher (Anm. d. Verlages)

»Ein Scherenschleifer«, vermutete Jakob. Es klang in der Tat, als reibe ein Schleifstein über Metall. Immer und immer und immer fort.
    Ich verriegelte das Fenster. Es war zwecklos. Nun, da ich einmal auf das furchtbare Kreischen aufmerksam geworden war, ließ es sich nicht mehr aussperren. Wie eine Klinge schnitt es durch Holz und Glas und fand seinen Weg in mein Ohr. Es würden unruhige Tage werden.
    Nachdem Jakob sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, packte ich meine Tasche aus.
    Auf ihrem Grund lag ein Kranz aus getrockneten Blumen.
     

3
    D u siehst schlecht aus«, sagte Jakob nach dem Frühstück.
    »Ich hab kein Auge zugetan«, entgegnete ich und blickte in den Spiegel neben meinem Bett.
    »Wegen des Scherenschleifers? Ich hab ihn gehört, bis ich einschlief.«
    »Er hat keine Minute Ruhe gegeben. Horch nur, da ist das Geräusch noch immer!«
    Das schrille Schleifen ertönte ungebrochen jenseits des Fensters. Eigenartig, dass sich im Schloss niemand daran störte.
    Wir zogen unsere Mäntel über und wagten uns ins Freie. Die Wachposten am Tor rührten sich nicht, als wir an ihnen vorübergingen. Jakob befragte einen von ihnen nach der Gasse, die Brentano uns genannt hatte. Dort sollte die alte Märchenfrau zu Hause sein. Der Wächter beschrieb uns den Weg und blickte dabei stur geradeaus. Ich habe nie begriffen, welchen Zweck diese soldatische Leichenstarre hat.
    Wir stapften durch den hohen Schnee und schützten uns dabei so gut es ging vor den eisigen Winden. Sie drangen einem durch Mark und Bein. Die Sonne war hinter grauen Winterwolken verborgen, tintiges Dämmerlicht erfüllte die Straßen. Dick vermummte Männer und Frauen kämpften sich durch die Schneewehen und hielten ihre Wege so kurz wie möglich. Keiner, der es nicht musste, ging bei solchem Wetter auf die Straße. Rußiger Qualm aus den Kaminen dräute über den Dächern.
    Im Südosten der Stadt gab es ein Viertel, dessen dörflicher Charakter nicht von schnurgeraden Hauptstraßen und klotzigen Beamtenhäusern zerstört worden war. Hier fühlte ich mich gleich viel wohler, denn es gab Gassen und enge Wege, die trotz ihrer Kargheit Gemütlichkeit verhießen. Die Schatten
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