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Die Wiederkehr

Die Wiederkehr

Titel: Die Wiederkehr
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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auch nur an einer Stelle wirklich zu
durchbrechen. Doch Andrej ließ sich von diesem ersten - falschen -
Eindruck nicht täuschen. Die meisten Männer hatten kaum noch die
Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Viele waren verletzt, andere
standen einfach mit hängenden Schultern und leerem Blick da und
warteten auf den nächsten Ansturm.
    Sechs Tage lang hatte allein der Aufmarsch des muselmanischen
Heeres gedauert. Den ersten berittenen Kriegern waren die leicht
bewaffneten Fußtruppen gefolgt; mehr und immer mehr, Tausende,
Zehntausende an jedem Tag, schließlich kamen die gefürchteten Janitscharen und am Ende die letzten Einheiten mit dem schweren
Kriegsgerät. Wie ein gefräßiger Moloch war das Lager auf der Ebene
bei Simmering gewachsen, und jeder Tag, an dem die feindlichen
Streitkräfte anwuchsen, hatte den Kampfeswillen der Verteidiger
weiter zermürbt.
    Schon der bloße Anblick des feindlichen Heeres wirkte niederschmetternd. Eine gewaltige Übermacht von mehr als hunderttausend
Muselmanen, denen nicht einmal zehntausend Verteidiger gegenüberstanden - wenn man die bewaffneten Bürger der Stadt nicht mitzählte, von denen viele jedoch kaum wussten, an welchem Ende man
ein Schwert überhaupt anfasste. Die Hälfte von ihnen, dachte Andrej
bitter, würde schreiend davonlaufen, sobald es den Türken gelang,
die Mauern zu überwinden und in die Stadt hineinzustürmen. Und
mit der anderen Hälfte würden die Angreifer leichtes Spiel haben.
    Dennoch - obwohl jeder von ihnen wissen musste, wie aussichtslos
ihre Lage war, setzten die Verteidiger sich mit dem Mut der Verzweiflung zur Wehr, nachdem die Schlacht endlich entbrannt war.
Bislang war es den Angreifern nicht gelungen, auch nur einen einzigen Mauerabschnitt zu erobern. Und das durfte auch nicht geschehen. Sämtliche Krieger, die diese Bezeichnung wirklich verdienten,
waren hier versammelt. Fielen die Mauern oder eines der Tore, fiel
Wien.
    Ein sonderbares Gefühl überkam Andrej. Plötzlich spürte er, dass
ihn jemand beobachtete. Nicht irgendeiner der Krieger dort unten,
die ihren Blick über die Zinnenkrone der Mauer schweifen ließen
und nach einer Schwachstelle suchten, und nicht einer der Bogenschützen auf der Suche nach einem Ziel. Dieses Gefühl des Angestarrt-Werdens war anders: unangenehmer, durchdringender. Andrej
trat ein weiteres Stück von der Mauer zurück und drehte sich einmal
im Kreis. Nicht weit entfernt gewahrte er auf einem der Türme eine
hoch gewachsene, in einen grauen, langen Mantel gehüllte Gestalt,
die seinen Blick anzog. Die Entfernung war zu groß und die Luft zu
sehr mit Staub erfüllt, um Einzelheiten zu erkennen, und dennoch
spürte Andrej, dass der andere genau in seine Richtung sah. Etwas an
ihm kam Andrej auf so unheimliche Weise vertraut vor, dass ihm ein
eisiger Schauer über den Rücken lief. Etwas an dieser Gestalt war…
    Nein. Das war unmöglich.
Ein gellender Schrei riss ihn aus seiner Erstarrung und ließ ihn herumfahren. Er sah einen Schatten auf sich zurasen, schlug instinktiv
den Krummsäbel des Muselmanen mit seiner eigenen Waffe zur Seite und hieb nach dem Kopf des Angreifers, der wie aus dem Nichts
hinter ihm aufgetaucht war.
    Aber seine Kräfte waren erschöpft. Die Waffe in seiner Hand
schien plötzlich Zentner zu wiegen, und seine Muskeln gehorchten
ihm nur noch widerwillig. Scheinbar mühelos wich der Krieger seinem Angriff aus und brachte ihm seinerseits eine heftig blutende
Schnittwunde dicht unter dem Ellbogen bei.
    Trotzdem schaffte es Andrej, auch den nachfolgenden Hieb abzuwehren, aber dann schienen seine Kräfte ihn endgültig zu verlassen.
Wie die silbrige Zunge einer tödlichen Schlange näherte sich der
Säbel des Türken seinem Gesicht, und Andrej begriff, dass er diesmal nicht mehr würde ausweichen oder den Angriff abwehren können. Er versuchte sich gegen den Schmerz zu wappnen, aber er wusste, wie unmöglich das war.
    Die Schneide des Krummsäbels traf sein Gesicht mit unvorstellbarer Wucht und spaltete es diagonal. Der Schmerz fuhr wie eine rote,
lodernde Sonne in seinen Kopf, erreichte den letzten Winkel seines
Körpers und setzte jeden einzelnen Nerv in seinem Leib in Brand.
Andrej kreischte vor Qual, fiel auf die Knie und schlug beide Hände
gegen das Gesicht. Blut lief in einem warmen, sprudelnden Strom
zwischen seinen Fingern hindurch, und der Schmerz wurde schlimmer. Andrej flehte zu Gott, ihn das Bewusstsein verlieren oder sterben zu lassen, aber
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