Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Filme der Nouvelle Vague an, hörte Adamo und las Flaubert und Balzac. Naoko hatte als Kind ihre Hausaufgaben zu den Klängen von Adamos »Tombe la neige« gemacht, mindestens zwanzigmal Die Verachtung von Jean-Luc Godard mit ihrer Mutter ansehen müssen und konnte Apollinaires »Le Pont Mirabeau« Wort für Wort auswendig rezitieren.
    Der Kontrast zwischen dem von ihrer Mutter idealisierten Paris und der feindseligen Stadt, in der sie nun lebte, war erschreckend. Sie erkannte nichts wieder, verirrte sich in schmutzigen Straßen und wurde von Taxifahrern abgezockt. Vor allen Dingen aber schockierte sie die Arroganz der Franzosen. Sie machten sich offen über ihren Akzent lustig, halfen ihr nie und fielen ihr laut und unbeherrscht ins Wort – vor allem wenn sie gegen etwas waren. Und Franzosen sind immer gegen irgendetwas.
    Im Krankenhaus Sainte-Anne gibt es eine Abteilung, die sich auf Paris shokogun – das Paris-Syndrom – spezialisiert hat. Jedes Jahr fühlen sich etwa hundert Japaner derart enttäuscht von der Stadt, dass sie eine Depression oder eine Paranoia entwickeln. Sie werden in die Klinik eingeliefert, behandelt und nach Hause zurückgebracht. So weit kam es bei Naoko allerdings nie. Dank ihres Vaters hatte sie früh gelernt, mit Widrigkeiten fertigzuwerden, und außerdem lebte sie nicht aus romantischen Gründen in Paris.
    Nach zwei Jahren, als ihr Französisch akzeptabel geworden war, hängte sie den ungeliebten Job als Model an den Nagel und widmete sich ihrer eigentlichen Berufung: den Zahlen, denen ihre Liebe gehörte. Zunächst arbeitete sie als Buchprüferin für japanische oder deutsche Firmen, um schließlich in eine große Gesellschaft namens ASSECO einzutreten. Damit war ihre Zukunft endlich gesichert.
    Die einzige Schwierigkeit war und blieb der Sex. Naoko lehnte es ab, durch den Einsatz ihres Körpers zum Erfolg zu gelangen. Dieses Vorgehen kannte sie bereits zur Genüge aus der Modebranche, doch in der eher sachlich geprägten Umgebung von Buchprüfungen und Steuerexpertisen war es noch viel schlimmer. Mit ihrer hellen Gesichtshaut und den tintenschwarzen Haaren stellte sie ein Traumbild dar. Trotz ihrer Qualifikationen für den Job forderte ihr Arbeitgeber mehr von ihr. Manchmal lehnte sie rundweg ab, manchmal gab sie vor, auf ihn einzugehen, ohne allerdings nachzugeben. Die Spielchen erschöpften sie, und das Resultat ließ nicht lange auf sich warten. Als ihr Chef begriff, dass er nicht bekommen würde, was er von ihr wollte, kündigte er ihr.
    Die ständige Anmache erstreckte sich auch auf andere Lebensbereiche. Eines Tages wurde ihr die Handtasche gestohlen, was in Japan so gut wie nie vorkommt. Naoko erstattete Anzeige. Zwar wurde ihre Gucci nie gefunden, aber anschließend hatte sie die größten Schwierigkeiten, den mit der Aufklärung betrauten Beamten wieder loszuwerden.
    Alles änderte sich jedoch, als sie Passan kennenlernte.
    Es war eine Liebe auf den ersten Blick, bei der wirklich alles stimmte. Schuld an dieser positiven Wende war Naokos drei Jahre älterer Bruder, der bereits in Paris lebte, als sie ankam. Shigeru, der mit fünfzehn Alkoholiker und mit siebzehn heroinabhängig gewesen war, hatte schon früh von einer Musikerkarriere in Europa geträumt. Nach einigen wilden Jahren in London landete er schließlich in Paris. Danach hörte seine Familie monatelang nichts mehr von ihm. 1997 tauchte er plötzlich clean, fröhlich und mit zehn Kilo mehr auf den Rippen wieder aus der Versenkung auf, sprach akzentfrei Französisch und arbeitete am Institut für orientalische Sprachen in Paris.
    Naoko und Shigeru standen sich nie sehr nah. Ihre einzige Gemeinsamkeit waren die schlechten Erinnerungen an ihr Elternhaus. Niemand legt Wert auf den Kontakt mit Menschen, die wissen, wie man mit heruntergelassener Hose bei einer Tracht Prügel aussieht, oder die miterlebt haben, wie man schluchzend und bibbernd an einem Winterabend vor die Haustür verbannt wurde. Trotzdem meldete sich Naoko nach ihrer Ankunft in Paris bei ihrem Bruder. Er half ihr bei der Wohnungssuche, und manchmal gingen sie zusammen essen. Von Zeit zu Zeit holte Naoko ihren Bruder nach dessen Kursen in der Rue de Lille im 7. Arrondissement ab.
    Bei einer dieser Gelegenheiten traf sie Passan. Der japanbegeisterte Kriminalbeamte war zweiunddreißig und nahm regelmäßig an Shigerus Sprachkursen teil. An einem 4. November gingen sie zum ersten Mal miteinander aus, und vom ersten Augenblick an war Naoko klar, dass der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher