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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem
Autoren: Franziska Wulf
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Stollen noch einige Meter, dann öffnete er sich plötzlich zu einer riesigen hallenartigen Höhle. Unwillkürlich hielt Anne bei ihrem Anblick den Atem an. Anselmo hatte nicht übertrieben, diese Höhle hatte wirklich Ähnlichkeit mit einer Kathedrale, auch wenn er nicht erwähnt hatte, wie schön sie war.
    Sie standen auf einer Art Empore oder Galerie, von der aus sie einen fantastischen Überblick hatten. Tropfsteine in allen nur erdenklichen Formen und Größen hingen von der Decke herab – einige plump und dick wie Baumstümpfe, andere lang und spitz wie Stricknadeln und wieder andere zart und fast durchsichtig wie Vorhänge. Hinter ihnen an der Höhlenwand hatten Wasser und Mineralien in einer mühsamen, gewiss mehrere Jahrtausende dauernden Arbeit ein Gebilde geschaffen , das tatsächlich mit ein bisschen Fantasie einer Orgel mitsamt ihren Pfeifen glich. Und unter ihnen, zu ihren Füßen, öffnete sich das Kirchenschiff. Es gab Gebilde, die aussahen wie steinerne Bänke, es gab Seitenaltäre mit Tropfsteinen darauf, die man tatsächlich für Heiligenfiguren halten konnte, und sogar ein mit Wasser gefülltes »Taufbecken«. Die Oberfläche des Wassers war vollkommen glatt und schimmerte weiß, als würde sich das Mondlicht darin spiegeln. Der Altar selbst, ein breiter, flacher Felsen, stand auf einem Plateau, das sich etwa anderthalb Meter über den Köpfen der versammelten Gläubigen erhob. Es war fantastisch. Dabei war die Höhle trocken, nicht ein einziger Tropfen rann mehr an den Stalaktiten herab. Eine erloschene Tropfsteinhöhle. So, wie sie jetzt war, würde sie wohl auch in Zukunft erhalten bleiben, Jahrhunderte, Jahrtausende, vielleicht sogar bis zum Ende aller Tage – oder doch wenigstens bis zum nächsten Erdbeben. Anne konnte sich gut vorstellen, weshalb Giacomo gerade diesen Ort für seine Versammlungen gewählt hatte. Wenn man nur ein bisschen religiös war, musste man einfach glauben, dass Gott selbst sich hier einen Andachtsraum geschaffen hatte.
    »Allah!«, flüsterte Rashid. »Das ist fantastisch!«
    »Wundervoll«, stimmte Cosimo ihm zu. Auch er konnte den Blick kaum losreißen von den Herrlichkeiten, die sich vor ihm ausbreiteten. »Würde ich es nicht mit eigenen Augen sehen , ich hätte wohl nie geglaubt, dass es so einen Ort gibt.«
    »Ja«, sagte Anselmo, und seine Stimme klang seltsam kühl und distanziert inmitten des Zaubers, der sie umgab. »Und nun stellt euch mal vor, dass diese Höhle angefüllt ist mit lauter Menschen, die Giacomo begeistert zujubeln, während er von einem blutigen Kreuzzug spricht. Da kann einem schon übel werden.«
    Anne schluckte. Es kam ihr vor, als hätte Anselmo ihr mit einem nassen Waschlappen ins Gesicht geschlagen. Tatsächlich hatte sie in Anbetracht der Schönheit dieses Ortes fast vergessen , weshalb sie hier waren. Sie wollten schließlich keine Höhlen erforschen, sondern einen überaus gefährlichen Mann fassen.
    »Wie kommt man da hinunter?«, fragte Rashid Anselmo, während er die Felswand nach einer Abstiegsmöglichkeit absuchte . Es schien unmöglich zu sein, da sie nur einen Schritt von ihren Füßen entfernt steil in die Tiefe abfiel. »Vielleicht sollten wir das Seil irgendwo festbinden und …«
    »Das ist nicht nötig«, sagte Anselmo und deutete nach links. »Von hier kann man sie zwar nicht sehen, aber dort hinten in der Ecke sind Stufen. Man muss beim Hinabsteigen zwar etwas vorsichtig sein, weil sie ziemlich steil sind, aber es geht.«
    Langsam und vorsichtig stiegen sie hinunter, einer nach dem anderen. Als Anne an der Reihe war, die ausgewaschenen Stufen hinabzuklettern, konnte sie sich nur wundern. Selbst daran hatte die Natur also gedacht. Man konnte wirklich den Eindruck gewinnen, dass hinter allem der ausgefeilte , bis ins letzte Detail durchdachte Plan eines genialen Architekten steckte.
    Während Cosimo sich kaum von den Wundern der Höhle losreißen konnten und Anselmo ein wenig unschlüssig herumstand , untersuchte Rashid den Boden nach Spuren. Und davon gab es hier wahrlich mehr als genug – Kerzenstummel, gelöschte Talglampen, ein Stück Schnur, ein kleines, aus Holz geschnitztes Kreuz. Anne beobachtete ihn, wie er einen Gegenstand nach dem anderen aufhob. Was wäre wohl aus Rashid geworden, wenn er im 21. Jahrhundert leben würde? Polizist?
    »Woher ist der Prediger gekommen?«, fragte Rashid Anselmo . Er schrie nicht, er sprach höchstens etwas lauter als vorher. Trotzdem wurde seine Stimme durch irgendein
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