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Die Wacholderteufel

Die Wacholderteufel

Titel: Die Wacholderteufel
Autoren: Sandra Lüpkes
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gelang ihm, den entsprechenden Fluch zu unterdrücken. Ein Schmerzensschrei –und sei er auch noch so kurz – hätte die Selbstmordkandidatin auf ihn aufmerksam gemacht. Bereits auf dem ersten Absatz ging sein Atem schwer. Diese verflucht hohen Stufen gingen an die Substanz. Nachdem er kurz nach Luft geschnappt hatte, griff er kräftig nach dem Geländer und zog sich hoch. Wie viele Stufen waren es noch? Er hörte das Funkgerät flüstern, doch er beachtete es nicht. Die Jungs sollten sich lieber beeilen, statt in der Gegend herumzufunken. Kurz drehte er sich um. Normalerweise müssten sie von hier oben aus schon zu erkennen sein. Sie waren im Waldstück auf der anderen Seite der großen Wiese, die Bäume standen am Rand etwas weiter auseinander. Wann tauchten sie endlich auf? Obwohl, was könnten die nun noch ausrichten? Wenn jemand wirklich springen wollte, dann tat er es auch, war es nicht so? Wenn jemand so ruhig und selbstverständlich hierhin kam, an einen hübschen, aber im Winter gottverlassenen Ort mitten im Naturschutzgebiet, dann hatte er – oder in diesem Fall sie – es sich schon gut überlegt. Dann war der Mensch vielleicht schon so gut wie tot, bevor die ersten Stufen erklommen waren.
    Jetzt war er fast oben. Er hielt kurz inne, und erst jetzt fiel ihm auf, wie still es heute war. Der Nebel im Wald verschluckte jedes Geräusch, Vögel waren im Dezember kaum da, Menschen sowieso nicht. Nur er und sein inzwischen rasselnder Atem und diese Frau, bei der er gleich ankommen würde. Nie zuvor war er so schnell auf diesen Felsen gestiegen. Er hatte nicht geahnt, dass er überhaupt in der Lage zu solch einem Tempo war. Noch zehn Stufen. Es war zu schaffen. Er ließ das Geländer los und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Hand hinterließ den metallischen Geruch des Treppengeländers in seinem Gesicht. Er nahm die letzte Biegung. Er war da.
    Von unten hörte er nun das Rufen der Kollegen, doch er drehte sich nicht um. Blickte nur geradeaus. Erfasste mit seinenAugen die Stelle, an der er die Gestalt im grauen Mantel erwartet und erhofft hatte. Doch er sah nur die Baumspitzen und den Himmel dahinter. Sonst nichts. Die Frau war nicht mehr da. Hier oben sah es so aus wie immer. Wie bei jedem Rundgang, wenn er kurz vor Feierabend noch einmal kontrollieren musste, ob sich noch jemand auf den Felsen herumtrieb. Da waren nur die Aussichtsplattform und der dunkelrote, angekratzte Zaun. Die Steine glänzten ein wenig vom leichten Regen, der sich darauf sammelte und in langsamen Tropfen herunterperlte.
    Er bewegte sich nicht. Kurz zog er in Erwägung, über die Brüstung zu blicken. Zu schauen, wo der Körper wohl gelandet war. Doch er entschied sich dagegen. An dieser Seite fiel der Felsen zwanzig Meter senkrecht herab, nur unterbrochen von einem kantigen Vorsprung. Darunter lag, noch einiges tiefer, der hübsche See. Er konnte sich den Sturz der Frau vorstellen. Oft genug hatte er spaßeshalber einen Stein hinabgeworfen und den Fall, den Aufprall und die Landung im Wasser beobachtet. Er wusste, sie war tot.
    Sie hatte sich keine Zeit gelassen, um noch gerettet zu werden. Sie hatte vor ihrem Sprung keinen Laut von sich gegeben. Keinen Schrei. Vermutlich noch nicht einmal ein zögerndes Scharren mit den Schuhen auf dem nassen Stein.
    Selbst wenn er mit einem Lift nach oben gesaust wäre, hätte er nichts ändern können. Er brauchte sich keine Vorwürfe zu machen. Es war nicht seine Schuld, er hatte nicht versagt.
    Trotzdem ließ er sich langsam auf der obersten Stufe nieder, schaltete das Funkgerät aus, vergrub sein Gesicht in der Armbeuge. Seine Tränen hinterließen einen feuchten Fleck auf dem kratzigen Stoff seines Flanellhemdes.

2
    «Ja. Hallo. Mein Name ist Wencke Tydmers, ich komme aus dem ostfriesischen Aurich, bin fünfunddreißig und ledig. Ich bin hierher gekommen, weil   …»
    Ja, warum war sie eigentlich hier?
    Gut zwanzig fremde Augenpaare musterten sie. Sie fühlte, wie die Blicke von ihrem offen stehenden Mund, aus dem kein weiteres Wort mehr kommen wollte, hinunterglitten und auf ihrem Bauch liegen blieben. Obwohl sie das weite, etwas ausgeleierte rote Sweatshirt trug – ihr Lieblingsstück mit der Pistole auf der Brust, tausendmal gewaschen und ohne Form   –, konnte sie den kleinen runden Hügel unter der Brust nicht mehr verbergen.
    «Frau Tydmers?», fragte die Kurleiterin, eine aparte Frau namens Viktoria Meyer zu Jöllenbeck. «Alles in Ordnung, Frau Tydmers?»
    Wencke nickte
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