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Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)

Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)

Titel: Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)
Autoren: Maria Àngels Anglada
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ersten Tag wusste er instinktiv, dass es keine Antwort auf so viel Leid gab, auf dieses nimmer endende Jom Kippur – Fasten und Buße -, das sich mit Heftigkeit über ihnen allen entlud.
    Schon seit Stunden dachte er in erster Linie an seine Geige, und seit geraumer Zeit kreisten seine Gedanken nur noch um die Möglichkeit zu überleben. Am Tag des »Frühjahrsputzes« war er zu sehr mit den Auswirkungen beschäftigt gewesen, die ihn betrafen, als dass er wirklich Mitleid mit den zum Tode Verurteilten empfunden hätte. Doch jetzt, als er plötzlich wieder die wüsten Beschimpfungen hörte, die den Neuzugängen galten, bemerkte er erstaunt, dass sein Herz noch nicht taub war für andere, dass er echtes Mitgefühl empfand, das wie eine zarte Pflanze in ihm aufkeimte, die nur auf gutem Boden und nicht auf Brachland gedeihen kann. Trotz des Lächelns, das ihm am Morgen abverlangt worden war, trotz des Spotts, der Monate des Hungers und der Kälte, der Blutergüsse von den Schlägen, trotz der Drohungen, und obwohl er sich darauf eingestellt hatte, kaum mehr Entsetzen zu verspüren, die Schreie zu unterdrücken, wenn man ihn züchtigte, seine Gedanken nicht schweifen zu lassen, war sein Herz lebendig geblieben. Er konnte in den Augen des jungen Mannes, der neben ihm marschierte, eine ähnliche Regung erkennen; diesen politischen Häftling hatte soeben ein brutaler Faustschlag mitten ins Gesicht getroffen, und jetzt drückte Daniel ihm schweigend die Hand, teilte mit ihm durch diese Geste den heimlichen, zaghaften Stolz, sich nicht zu Untermenschen machen zu lassen; denn das waren die anderen.
    Nun, wo der Aufseher weiter vorn war, fasste er den Mut, ihn zu trösten: »Schmerzt es sehr?«
    »Es geht.«
    Er dachte, dass er sich zu wenig um den Jungen gekümmert hatte, und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der junge Bursche – im Lager kam einem alles zu Ohren – war von den Seinen abgeschnitten, durfte mit ihnen keine Verbindung aufnehmen, geschweige denn Pakete erhalten, obgleich er weder Jude noch Zigeuner war: Sie hatten ihn mit anderen Leidensgenossen unter Strafverschärfung interniert, die von den Schweinen als »Nacht-und-Nebel-Aktion« bezeichnet worden war, ein Name, der ihre perverse Erfindungsgabe bewies, wenn es galt, schöne Worte für eine infame Methode zu benützen, die die Häftlinge in absoluter Ungewissheit ließ. Nicht einmal die Eltern des Jungen wussten, wo er sich derzeit befand. Besaß denn niemand mehr eine Spur von Gewissen? Nein, denn sie wollten unter keinen Umständen auf die billigen Arbeitskräfte verzichten, die ihnen gutes Geld einbrachten.
    Die Vorarbeiter der Fabrik in der abgelegenen Zweigstelle der mächtigen IG Farben kündigten ihnen per Lautsprecher eine Viertelstunde Pause an, man würde sie gruppenweise aufrufen, auch eine Geldprämie sollten sie erhalten, mit der sie in der Kantine etwas zu essen kaufen konnten. Ein Raunen erfüllte die Halle, wie die Wellen eines stark aufgewühlten Meeres, ein einziges dumpfes Stöhnen, das nur mit Mühe von den Schreien der Aufseher erstickt werden konnte: »Ruhe!«
    Schließlich übertönten die Maschinen die menschlichen Stimmen; Daniels junger Kamerad weinte über seiner Arbeit. Als sie an der Reihe waren, in die Kantine zu gehen, gab es nicht mehr viel Auswahl. Der Junge und der Geigenbauer, der über seinem Hunger alles vergaß, aßen jeder ein Würstchen und tranken ein Glas Milch. Ihre Kehlen waren so ausgedörrt, dass sie die Milch geräuschvoll hinunterstürzten und sich danach die Lippen leckten, gierig wie ein Säugling an der Mutterbrust. Und als Daniel den letzten Tropfen getrunken hatte, dachte er, dass er jedes Gramm an zusätzlicher Nahrung nutzen musste, wenn er genügend Kraft haben wollte, um die Geige fertigzubauen.

VII
     
    EINMAL, GOTT, WURDE ICH
IN DER NACHT
NICHT HEIMGESUCHT UND
MUSSTE NICHT JÄHLINGS
EINEN MIR UNBEKANNTEN WEG
BESCHREITEN.
     

Josep Carner, Der Prophet
     
     
    D er Geiger begann allein das langsame, rhythmische Thema der Melodie; der Bogen strich sicher über die Saiten, und bald stimmte das Cello begleitend ein. Er hatte lange darüber nachgedacht, welches Stück er auswählen sollte, und schließlich hatte er sich für die Variationen über das Follia-Thema von Arcangelo Corelli in der Version von Hubert Léonard entschieden, die er auswendig kannte; allerdings wurde die zweite Stimme statt vom Klavier oder Cembalo vom Cello übernommen. Ihr Zusammenspiel war harmonisch, und es war genau
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