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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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Kebussjan gehört. Die Kirche »Zu den wachsenden Engelmächten« ruht auf einem breiten Sockel. Eine Freitreppe führt zum Portal. Awetis Bagradian, der Stifter, hat sie im kleineren Maße einem berühmten nationalen Heiligtum nachbilden lassen, das sich im Kaukasus befindet. Aus dem offenen Tore strömt der Gesang des Chores, der die Messe begleitet. Man sieht über die dichte Menge hinweg den kerzenbleichen Altar im Dunkel. Das goldene Rückenkreuz auf dem roten Ornat Ter Haigasuns leuchtet.
    Gabriel und Stephan Bagradian treten ins Portal. Samuel Awakian, der Hofmeister, hält beide auf. Er hat schon ungeduldig gewartet:
    »Gehn Sie nur voraus, Stephan«, bedeutet er seinem Zögling. »Ihre Mutter erwartet Sie.«
    Dann, als Stephan in der summenden Menge verschwunden ist, wendet er sich rasch an den Herrn:
    »Ich will Ihnen nur mitteilen, daß man Ihre Pässe eingefordert hat. Reisepaß und Inlandpaß. Drei Beamte von Antiochia sind gekommen.«
    Gabriel betrachtet aufmerksam das Gesicht des Studenten, der das Leben der Familie nun schon seit mehreren Jahren teilt. Armenisches Intellektuellen-Gesicht. Hohe, ein wenig zurückweichende Stirn. Wachsame, tief bekümmerte Augen hinter der Brille. Der Ausdruck ewiger Schicksalsergebenheit und zugleich ein scharfer Zug wehrhafter Bereitschaft, in jeder Sekunde den Hieb eines Gegners aufzufangen. Erst nach einer Weile dieser eingehenden Antlitz-Erforschung stellt Bagradian die Frage:
    »Und was haben Sie getan?«
    »Madame hat den Beamten alles ausgefolgt.«
    »Auch den Inlandpaß?«
    »Ja, Reisepaß und Teskeré.«
    Gabriel Bagradian steigt die Kirchentreppe hinab, zündet eine Zigarette an und raucht tiefsinnig einige Züge. Der Inlandpaß ist eine Urkunde, welche ihrem Besitzer die Freizügigkeit innerhalb der ottomanischen Reichsprovinzen zusichert. Ohne dieses Stück Papier hat der Untertan des Sultans theoretisch nicht einmal das Recht, sich von einem Dorf in das andere zu begeben. Gabriel wirft die Zigarette fort und richtet sich mit einem Ruck auf:
    »Es bedeutet nichts anderes, als daß ich heute oder morgen zu meinem Kader nach Aleppo einberufen werde.«
    Awakian senkt seinen Blick auf eine tiefeingebackene Räderspur, die der letzte Regen im Lehmboden des Kirchplatzes zurückgelassen hat:
    »Ich glaube nicht, daß es Ihre Einberufung nach Aleppo bedeutet, Effendi.«
    »Es kann ja gar nichts anderes bedeuten.«
    Awakians Stimme wird ganz leise:
    »Auch ich habe meinen Paß abliefern müssen.«
    Bagradian bricht ein beginnendes Lachen schnell ab:
    »Das heißt, Sie werden zur Musterung nach Antiochia müssen, lieber Awakian. Diesmal ist es kein Spaß. Aber seien Sie nur ruhig. Wir werden die Militärsteuer für Sie halt noch einmal leisten. Ich brauche Sie für Stephan.«
    Awakian hebt den Blick noch immer nicht von der Räderspur:
    »Wenn ich auch noch jung bin – Doktor Altouni, Apotheker Krikor, Pastor Nokhudian sind gewiß nicht mehr kriegsdienstpflichtig. Und auch ihnen hat man den Teskeré abgefordert.«
    »Wissen Sie das genau?« fährt ihn Gabriel an. »Wer hat abgefordert? Was sind das für behördliche Organe? Welche Gründe haben sie angegeben? Überhaupt, wo befinden sich die Herrschaften? Ich habe große Lust, mit ihnen ein Wort zu reden.«
    Er bekommt die Antwort, daß diese Beamten, von einer Abteilung berittener Gendarmerie begleitet, schon vor anderthalb Stunden in der Richtung nach Suedja verschwunden sind. Bei ihrem Auftrag könne es sich ja nur um die Notabeln handeln, da der einfache Bauer und Handwerker ja keinen Teskeré besitzt, sondern höchstens einen Erlaubnisschein für den Markt in Antiochia.
    Gabriel macht ein paar lange Schritte hin und her, ohne sich um den Hauslehrer zu kümmern. Dann erst mahnt er:
    »Gehn Sie nur voraus in die Kirche, Awakian, ich komme schon nach.«
    Er denkt aber gar nicht daran, dem Rest der Messe beizuwohnen, deren dichtgeballter Chorgesang jetzt besonders stark hervorbricht. Langsam, den Kopf im Nachdenken zur Seite neigend, schlendert er über den Platz, geht ein Stück die Straße entlang und verläßt sie, wo der Weg zur Villa abzweigt. Ohne aber das Haus zu betreten, macht er bei den Ställen halt und läßt sich eines der Reitpferde satteln, die der Stolz seines Bruders Awetis waren. Leider ist Kristaphor nicht da, um ihn zu begleiten. So nimmt er den Stallburschen mit. Genau weiß er noch nicht, was er unternehmen wird.
    Jedoch bei frischem Tempo kann er um die Mittagstunde in Antiochia
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