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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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dich nicht gleich einberufen?«
    »Es heißt, daß die Artillerie vorläufig nicht genügend Geschütze hat. Wenn die neuen Batterien aufgestellt sind, wird man dann alle Reserveoffiziere einberufen.«
    »Und wohin werden sie dich schicken?«
    »Ich gehöre zur vierten Armee in Syrien und Palästina.«
    Es ist für Gabriel Bagradian eine beruhigende Vorstellung, daß er wohl für einige Zeit nach Aleppo, Damaskus oder Jerusalem kommandiert werden kann. Vielleicht gäbe es da eine Möglichkeit, Juliette und Stephan mitzunehmen. Stephan scheint die väterlichen Sorgen zu erraten:
    »Und wir, Papa?«
    »Das ist es eben …«
    Der Knabe fällt dem Vater inbrünstig ins Wort:
    »Laß uns hier, Papa, bitte laß uns hier! Auch Mama gefällt es doch sehr gut in unserem Haus.«
    Mit dieser Versicherung will Stephan den Vater über die Gefühle Mamas beruhigen, die ja hier in der Fremde ist. Er spürt mit wacher Feinheit das Hinüber und Herüber der beiden Welten in der Ehe seiner Eltern.
    Bagradian aber überlegt:
    »Es wäre am besten, wenn ich es versuchte, euch über Stambul nach der Schweiz zu bringen. Leider aber ist Stambul auch schon Kriegsschauplatz …«
    Stephan ballt die Fäuste über der Brust:
    »Nein, nicht in die Schweiz! Laß uns hier, Papa!«
    Gabriel sieht den Jungen, dessen Augen flehen, erstaunt an. Sonderbar! Dieses Kind, das die Väterheimat nie gekannt hat, ist also dennoch mit ihr tief verbunden. Was in ihm selbst lebt, die Anhänglichkeit an diesen Berg des Bagradian-Geschlechtes, das hat der in Paris geborene Stephan ohne eigene Gefühlserfahrung in seinem Blut geerbt. Er legt den Arm um die Schulter seines Knaben, sagt aber nur:
    »Wir werden sehn.«
    Als sie wieder die Hochfläche des Damlajik erstiegen haben, dringt das Morgengeläute von Yoghonoluk zu ihnen empor. Der Weg ins Tal dauert kaum eine Stunde. Sie müssen sich sehr beeilen, um wenigstens die zweite Hälfte der Messe noch zu hören.
    In Azir, dem Raupendorf, begegnen die Bagradians nur wenigen Leuten, die ihnen den Morgengruß entbieten:
    »Bari luis!« »Gutes Licht!« Die Bewohner von Azir pflegen in Yoghonoluk zur Kirche zu gehn. Sie haben ja nur fünfzehn Minuten bis in den Hauptort. Vor manchen Haustüren sind Tische aufgestellt, die große Bretter tragen. Über diese Bretter sind die Eier des Seidenwurmes ausgeschmiert, eine weißliche Masse, die in der Sonne brütet. Stephan erfährt von dem Vater, daß der Ahne Awetis der Sohn eines Seidenspinners gewesen ist und in frühester Jugend seine Laufbahn damit begann, daß er als Fünfzehnjähriger nach Bagdad fuhr, um Brut einzukaufen.
    Mittwegs vor Yoghonoluk kommt der alte Gendarm Ali Nassif an ihnen vorüber. Der würdige Saptieh gehört zu jenen zehn Türken, die unter den Armeniern der Dörfer schon seit langen Jahren leben, und zwar in Frieden und Freundschaft. Außer ihm wären noch die fünf Untergendarmen zu nennen, die seinen Posten bilden, jedoch öfters ausgewechselt werden, während er an Ort und Stelle bleibt, unverrückbar wie der Musa Dagh. Sonst gibt es nur noch als Vertreter des Sultans einen verwachsenen Briefträger samt Familie, der am Mittwoch und am Sonntag die Post aus Antiochia bringt. Ali Nassif macht heute einen aufgestörten und besorgten Eindruck. Dieser struppige Funktionär der ottomanischen Obrigkeit scheint sich in großer amtlicher Eile zu befinden. Sein mit Pockennarben bedecktes Gesicht glänzt feucht unter der räudigen Pudelmütze. Der martialische Kavalleriesäbel schlägt ihm gegen die ausgedörrten OB eine. Während er sonst angesichts Bagradian Effendis immer ehrfürchtig Front macht, salutiert er heute nur stramm, legt aber dabei ein betretenes Wesen an den Tag. Sein verwandeltes Benehmen ist für Gabriel so auffallend, daß er ihm eine ganze Weile lang nachblickt.
    Über den Kirchplatz von Yoghonoluk laufen nur mehr einige Nachzügler, die von weither kommen und sich deshalb verspätet haben. Frauen mit buntgestickten Kopftüchern und gebauschten Röcken. Männer, die den Schalwar, die Pumphose, und darüber den Entari, einen kaftanartigen Rock, tragen. Ihre Gesichter sind ernst und in sich gekehrt. Die Sonne hat schon sommerliche Kraft und macht das Rund der kalkweißen Häuser grell erstrahlen. Die meisten sind einstöckig und haben frischen Anstrich bekommen: Das Pfarrhaus Ter Haigasuns, das Haus des Arztes, das Haus des Apothekers, das große Gemeindehaus, das dem steinreichen Muchtar, dem Ortsvorsteher von Yoghonoluk Thomas
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