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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Autoren: Franz Werfel
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Musa Dagh wird von den Bergbewohnern Damlajik genannt. Gabriel kennt noch all diese Namen. Der Damlajik erreicht keine nennenswerten Höhen. Die beiden südlich gelegenen Kuppen wachsen bis zu achthundert Metern empor. Sie bilden die letzten Erhebungen des Gebirgsstocks, der dann unversehens und ohne rechte Ordnung mit riesigen Steinhalden in die Ebene des Orontes stürzt, wie abgebrochen. Hier im Norden, wo der Spaziergänger soeben seinen Weg sucht, ist der Damlajik niedriger. Er fällt dann in eine Sattelkerbe ab. Dies ist der schmalste Punkt des ganzen Küstengebirges, die Taille des Musa Dagh. Die Hochfläche verengt sich auf wenige hundert Meter und das Felsgewirr der Steilseite dringt weit vor. Gabriel glaubt jeden Stein und jeden Busch zu kennen. Von allen Bildern der Kindheit hat sich dieser Ort am tiefsten in sein Gedächtnis eingestanzt. Es sind dieselben schirmspannenden Pinien, die hier einen Hain aufschlagen. Es ist derselbe kriechende Nadelwuchs, der sich über den steinigen Boden sträubt. Efeu und anderes Schlinggewächs umhalst eine Runde weiser Felsblöcke, die wie riesenhafte Persönlichkeiten eines Natursenats ihre Beratung unterbrechen, sobald der Schritt des Eindringlings erschallt. Eine reisefertige Schwalbennation durchzwitschert die Stille. Erregtes Spiel in dem grünlichen Binnensee der Luft. Wie von dunklen Forellen. Das jähe Entfalten und Einziehn der Flügel gleicht einem Lidschlag.
    Gabriel legt sich, die Arme unter dem Kopf verschränkend, auf eine grasige Stelle. Zweimal hat er schon vorher den Musa Dagh erstiegen, um diese Pinien und Felsblöcke zu finden, ist aber immer aus der Richtung geraten. Die gibt es also gar nicht, dachte er schon. Jetzt schließt er müde die Augen. Kehrt der Mensch an einen alten Ort der Betrachtung und des inneren Lebens zurück, so stürzen sich die Geister, die der Heimkehrer dereinst dort zeugte und zurückließ, leidenschaftlich auf ihn. Auch auf Bagradian stürzen sich seine Knabengeister, als hätten sie hier unter Pinien und Felsen dieser reizenden Einöde dreiundzwanzig Jahre seiner treulich gewartet. Es sind sehr kriegerische Geister. Die wilden Phantome jedes Armenierjungen. (Konnten sie anders sein?) Der blutige Sultan Abdul Hamid hat einen Ferman wider die Christen erlassen. Die Hunde des Propheten, Türken, Kurden, Tscherkessen, sammeln sich um die grüne Fahne, um zu sengen, zu plündern und das Armeniervolk zu massakrieren. Die Feinde aber haben nicht mit Gabriel Bagradian gerechnet. Er vereinigt die Seinen. Er führt sie ins Gebirge. Mit unbeschreiblichem Heldenmut wehrt er die Übermacht ab und schlägt sie zurück.
    Gabriel entzieht sich diesen kindischen Anwandlungen nicht. Er, der Pariser, Juliettens Gatte, der Gelehrte, der Offizier, der die Wirklichkeit des modernen Krieges kennt und neuerdings im Begriffe steht, seine Pflicht als türkischer Soldat zu erfüllen – er ist zugleich der Knabe, der sich mit uraltem Bluthaß auf den Erzfeind seiner Rasse wirft. Die Träume jedes Armenierjungen. Nur ein Augenblick zwar! Doch Gabriel wundert sich und lächelt ironisch, ehe er einschläft.
     
    Gabriel Bagradian fährt auf, nicht ohne Schreck. Jemand hat ihn eindringlich beobachtet, während er schlief. Wahrscheinlich recht lange. Er sieht in die stillbrennenden Augen seines Sohnes Stephan. Eine unangenehme Empfindung, wenn auch nicht ganz deutlich, erfaßt ihn. Der Sohn hat seinen Vater während des Schlafes nicht zu überraschen. Irgend ein tiefes Sittengesetz wird dadurch verletzt. Er legt eine leichte Strenge in seine Worte:
    »Was tust du hier? Wo ist Monsieur Awakian?«
    Jetzt scheint Stephan auch darüber bestürzt zu sein, daß er den Vater im Schlafe ertappt hat. Seine Hände wissen mit sich nichts anzufangen. Seine starken Lippen öffnen sich. Er trägt ein College-Gewand, Halbstrümpfe und einen breiten Umlegkragen. Während er spricht, zupft er an seinem Rock:
    »Mama hat mir erlaubt, allein spazierenzugehen. Monsieur Awakian ist heute frei. Wir lernen ja am Sonntag nicht.«
    »Wir sind hier nicht in Frankreich, Stephan, sondern in Syrien«, erklärt der Vater bedeutungsvoll. »Das nächste Mal darfst du nicht ohne Aufsicht in den Bergen herumklettern.«
    Stephan sieht Papa gespannt an, als erwarte er außer dieser kleinen Rüge noch wichtigere Weisungen. Doch Gabriel sagt nichts mehr. Eine komische Verlegenheit bemächtigt sich seiner. Ihm ist es, als sei er jetzt zum erstenmal im Leben mit seinem Jungen allein. Seitdem sie
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