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Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Titel: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Autoren: Robert Musil
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von einem Fieber gepeinigt – aus allen Winkeln des dunklen Zimmers furchtbare Drohungen sich emportürmen sah.
    Sein Verhalten vor der Kommission; es kam ihm ungeheuer lächerlich vor. Soviel Aufhebens! Hatten sie nicht recht gehabt? Wegen einer solch kleinen Sache! Jedoch es war etwas in ihm, das dieser Beschämung den Stachel nahm. »Gewiß gebärdete ich mich unvernünftig,« überlegte er, »jedoch scheint das Ganze überhaupt wenig mit meiner Vernunft zu tun gehabt zu haben.« Das war nämlich jetzt sein neues Gefühl. Er hatte die Erinnerung an einen fürchterlichen Sturm in seinem Inneren, zu dessen Erklärung die Gründe, die er jetzt noch in sich dafür vorfand, beiweitem nicht ausreichten. »Also mußte es wohl etwas viel Notwendigeres und Tief erliegendes gewesen sein,« schloß er, »als was sich mit Vernunft und Begriffen beurteilen läßt. ...«
    Und das, was vor der Leidenschaft dagewesen war, was von ihr nur überwuchert worden war, das Eigentliche, das Problem, saß fest. Diese wechselnde seelische Perspektive je nach Ferne und Nähe, die er erlebt hatte. Dieser unfaßbare Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen je nach unserem Standpunkte plötzliche Werte gibt, die einander ganz unvergleichlich und fremd sind ...
    Dies und alles andere, – er sah es merkwürdig klar und rein – und klein. So wie man es eben am Morgen sieht, wenn die ersten reinenSonnenstrahlen den Angstschweiß getrocknet haben und Tisch und Schrank und Feind und Schicksal wieder in ihre natürlichen Dimensionen zurückkriechen.
    Aber wie da eine leise, grüblerische Müdigkeit zurückbleibt, so war es auch Törleß geschehen. Er wußte nun zwischen Tag und Nacht zu scheiden; – er hatte es eigentlich immer gewußt, und nur ein schwerer Traum war verwischend über diese Grenzen hingeflutet, und er schämte sich dieser Verwirrung: aber die Erinnerung, daß es anders sein kann, daß es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, – auch diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten aus.
    Er konnte nicht viel davon erklären. Aber diese Wortlosigkeit fühlte sich köstlich an, wie die Gewißheit des befruchteten Leibes, der das leise Ziehen der Zukunft sehen in seinem Blute fühlt. Und Zuversicht und Müdigkeit mischten sich in Törleß ...
    So kam es, daß er still und nachdenklich auf den Abschied wartete ...
    Seiner Mutter, die geglaubt hatte, einen überreizten und verwirrten jungen Menschen zu finden, fiel seine kühle Gelassenheit auf.
    Als sie zum Bahnhof hinausfuhren, lag rechts von ihnen der kleine Wald mit dem Hause Boženas. Er sah so unbedeutend und harmlos aus, ein verstaubtes Geranke von Weiden und Erlen.
    Törleß erinnerte sich da, wie unvorstellbar ihm damals das Leben seiner Eltern gewesen war. Und er betrachtete verstohlen von der Seite seine Mutter.
    »Was willst du, mein Kind?«
    »Nichts, Mama, ich dachte nur eben etwas.«
    Und er prüfte den leise parfümierten Geruch, der aus der Taille seiner Mutter aufstieg.
     
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