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Die Verwandlung

Die Verwandlung

Titel: Die Verwandlung
Autoren: J. M. Sampson
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schaffte ich es, unbemerkt an meinem Vater vorbeizukommen, der gänzlich in seinem Computerspiel aufging. Wenn sich seine Bauvorhaben wie jedes Jahr um diese Zeit minimierten, verbrachte mein Vater jede freie Minute mit Rollenspielen. Während er Tag für Tag seinen Online-Spielen frönte, vergaß er die meiste Zeit über alles andere um sich herum. Darauf ankommen lassen wollte ich es jedoch nicht.
    Ich wandte mich dem Fenster zu. Es war stockdunkel draußen, doch genau die Intensität dieser Dunkelheit war es, die ich erkunden musste. Ich öffnete das Fenster. Der Regen hatte im Laufe des Abends etwas nachgelassen. Eine kühle Brise, die den Duft von feuchtem Laub und Erregung mit sich trug, blies mir die Haare aus dem Gesicht. Wie in der Nacht zuvor machte ich mir die Höhe meines Schreibtischstuhls zunutze und stieg mit einem Fuß aus dem Fenster. Im Gegensatz zu letzter Nacht rief niemand an, und es kam auch niemand in mein Zimmer, um nachzusehen, ob es mir gut ging. Ich wand mich mit dem Oberkörper durch das Fenster, zog mein zweites Bein hinterher und balancierte auf dem Fensterbrett. Die Wolken am mondlosen Himmel wurden weniger, und die glänzende Straße unter mir war menschenleer. Ich hörte, wie sich die Nachbarskinder etwas im Fernsehen ansahen. Nachdem ich kurz eingeatmet hatte, stemmte ich meine hochhackigen Stiefel gegen die Verkleidung des Hauses, spannte die Armmuskulatur an, um mich abzudrücken, und sprang.
    Ein paar erregende Sekunden lang flog ich durch die Luft– schwerelos, körperlos und absolut furchtlos. Ich spürte den Boden näher kommen, bevor ich ihn sah. In der Hocke machte ich mich zur Landung bereit. Ich setzte perfekt und geräuschlos auf. Mit hohen Absätzen. Auf einem knapp zehn Meter vom Haus entfernten Fußweg und nach einem Sprung aus einem Schlafzimmerfenster, das in etwa sechs Metern Höhe lag.
    Erst heute wird mir bewusst, dass dieser Sprung nicht im Entferntesten im Bereich der Fähigkeiten der normalen, durchschnittlichen Emily Webb, wie man sie kennt, lag. Doch in jener Nacht, in der ein Mix aus Adrenalin und Aufregung in Wellen durch meinen Körper jagte, nahm ich das gar nicht wahr. Es war, als würde ich immer aus meinem Fenster im zweiten Stock springen, wenn ich Lust hatte auszugehen.
    Ich vergewisserte mich, dass mein Oberteil und mein Rock richtig saßen und mein Haar noch in Ordnung war. Dann wandte ich mich nach Osten, der leeren Straße zu. Dort lag Terrizzles Haus. Das wusste ich, weil Megan in seiner Nähe wohnte und wir uns natürlich in ihrer Nachbarschaft gesehen hatten. Daher kannte er mich wahrscheinlich überhaupt erst, denn wir hatten keine gemeinsamen Unterrichtsstunden.
    Ich stand auf dem Gehweg unter einer flackernden Laterne und dachte: Das Einzige, das noch besser war, als Terrance zu blamieren, war, ihn vor Zeugen zu blamieren.
    Also, erster Stopp: Megans Haus.
    Zweiter Stopp: Terrances Zuhause.
    Im Anschluss: Wer weiß? Bis zum Morgengrauen waren es noch Stunden, und ich hatte vor, in dieser Zeit so viel Spaß wie möglich zu haben. Zufrieden und unfähig, mit dem Grinsen aufzuhören, ging ich die Straße entlang, fest entschlossen, mir diese Nacht zu eigen zu machen.

4
    Was bin ich?
    Ganz ehrlich, ich hatte vor, direkt zu Megans Haus zu gehen. Doch als ich in jener ersten Nacht die Straße entlangstolzierte, empfand ich alles um mich herum als Ablenkung. Der schwarze Himmel verlieh den umliegenden Häusern ein düsteres Aussehen. Eingehüllt in die Schatten turmhoher Nadelbäume standen sie da. Aus jedem Haus drang gelbliches Licht durch die Vorhänge, während die Fernseher einen bläulichen Schein warfen. Ich konnte fühlen, wie die Elektrizität durch die Stromleitungen über mir glitt. Meine Haut prickelte jedes Mal, wenn ich an einer Straßenlaterne vorbeiging, und die feinen Härchen auf meinen Armen richteten sich auf. Ich blieb im schwefelgelben Schein einer Straßenlampe stehen, schloss die Augen, breitete die Arme aus und nahm alles in mich auf. Das erinnerte mich an das einzige Mal, als Megan und ich gemeinsam ein Solarium besucht hatten.
    Megan. Richtig. Ich hatte eine Mission. Also zurück an die Arbeit. Ich nahm meine Arme herunter und ging weiter. Einige der Vorgärten meiner Nachbarn sahen übertrieben gepflegt aus und waren mit behutsam umsorgten Bäumen und Rosenbüschen bepflanzt. Über dem Duft von nassem Gras, Blättern und Blumen lag der üble Gestank einer Nutztierfarm, der sich mit dem scharfen Geruch irgendeiner
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