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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Autoren: Jane Casey
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liegt es ja an der Erinnerung. Es muss schrecklich gewesen sein, als Archie ohne sie hier aufgetaucht ist.«
    Da begann sie so heftig zu zittern, dass ich es vom anderen Endes des Raumes sehen konnte, und augenblicklich tat es mir leid, dass ich sie wieder daran erinnert hatte. Ihr Blick ging ins Leere, und ich spürte, dass sie wieder völlig abwesend war und vergessen hatte, dass ich mich mit ihr im selben Raum befand. Als sie anfing zu reden, musste ich mich anstrengen, um sie zu hören.
    » Hier aufgetaucht? Aber Archie war doch die ganze Zeit hier…« Ihre Stimme verlor sich, und es war, als käme sie erst dann wieder zur Besinnung. Sie straffte den Rücken und räusperte sich. » Ich meine, ja natürlich. Wir waren so entsetzt. Wir hatten Archie nicht vor der Haustür erwartet, denn er hätte ja bei Jenny sein sollen.«
    Aber das war gar nicht das, was sie gerade gesagt hatte.
    Ich saß wie festgenagelt in meinem Sessel, starr vor Schreck. Ich hatte das Gefühl, dass mein gesamtes Weltbild um einige Grad verschoben war und ich mich in einer neuen, ganz und gar makabren Wirklichkeit befand. Ich musste mich einfach irren, sagte ich mir. Wahrscheinlich stand ich noch unter Schock, wegen Mums Schicksal und Charlies Leichnam. Deshalb konnte ich nur noch Tod und Gewalt überall und in allem sehen, und was mir gerade durch den Kopf ging, war vollkommen unmöglich. Es war undenkbar.
    Was nicht hieß, dass es nicht sein konnte.
    Sie hatte den Kopf abgewendet und lauschte konzentriert auf die Geräusche aus dem hinteren Teil des Hauses. Die Stimmen verloren sich, und es klang, als ob Valerie und Michael hinaus in den Garten gegangen waren. Das verschaffte mir ein wenig Zeit– nicht viel, aber ein bisschen. Vielleicht sogar genug.
    » Diane«, sagte ich vorsichtig, so leise und ruhig wie möglich, » wenn manches ein bisschen anders gewesen ist, als Sie das der Polizei erzählt haben, ist das kein Problem. Aber wenn es etwas gibt, das die Polizei über das wissen sollte, was mit Jenny geschehen ist, dann ist jetzt bestimmt eine gute Gelegenheit, es ihnen zu sagen.«
    Sie ließ den Kopf sinken und starrte auf ihre Hände, die verkrampft auf ihrem Schoß lagen. Sie zitterte vor Anspannung. Ganz offensichtlich kämpfte sie mit sich, wollte reden. Ich wartete und wagte kaum zu blinzeln.
    » Er bringt mich um.« Der Satz stand wie ein ihrem Atem entstiegenes Gespenst im Raum, und ich erschrak, als ich die Angst in ihren Augen sah.
    » Sie werden Sie beschützen. Sie können Ihnen helfen.« Ich musste sie bedrängen, und obwohl ich wusste, was ich tat und mich dafür hasste, sagte ich: » Wollen Sie nicht lieber die Wahrheit sagen, Diane? Für Jenny?«
    » Alles, was wir getan haben, haben wir immer nur für sie getan.« Ihr Blick ruhte auf einem Bild, das auf dem Tisch neben ihr stand– ein Urlaubsfoto von einer kleinen Jenny, die vor blauem Himmel steht und in die Kamera lacht. Schweigen breitete sich aus, und ich zuckte beinahe zusammen, als Diane schließlich doch weitersprach. » Das ist alles so sinnlos, oder? Völlig sinnlos. Und ich hatte gedacht, es gibt einen Sinn. Keine Ahnung, warum.«
    » Ich verstehe, dass Sie Angst haben, Diane, aber wenn Sie einfach…«
    » Ich hatte Angst«, unterbrach sie mich, und ihre Stimme war jetzt fester. » Ich hatte Angst, deshalb habe ich getan, was er wollte. Aber ich werde nicht mehr für ihn lügen. Er glaubt, dass es richtig war, was er getan hat, aber wie kann denn so etwas richtig sein? Ich konnte ihn nicht mehr aufhalten. Ich konnte nichts tun, um sie zu retten, denn für Michael muss immer alles perfekt sein. Er kann es nicht ertragen, wenn etwas nicht… perfekt ist.«
    » Sogar Jenny?«
    » Ganz besonders Jenny. Sie wusste, dass er Ungehorsam nicht hinnehmen würde. Sie hätte wissen müssen, dass es gefährlich war, was sie tat.«
    Mir fiel Michaels Auftritt auf dem Polizeirevier ein, als ihm gerade klar geworden war, dass der Missbrauch an seiner Tochter bald allgemein bekannt sein würde. Zu jener Zeit hatte ich angenommen, er wollte sie beschützen, noch über den Tod hinaus. Aber da hatte ich wohl falsch gelegen. Er wollte lediglich ihren Ruf schützen. Und vor allem sich selbst.
    Dianes Stimme war wieder ganz leise geworden, so leise, dass ich die Worte gerade noch verstehen konnte. » Das mit dem Baby hat ihn völlig erledigt.«
    » Das kann ich mir vorstellen.«
    » Nein. Nein, das können Sie nicht. Wissen Sie denn, was er von mir verlangt hat? Ich musste sie
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