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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Rebecca Martin
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noch zu klein gewesen, um sich daran zu erinnern. Irgendwann hatte man ihn nicht mehr gesehen. Irgendwann hatte man ihn nicht mehr beim Namen genannt, sondern nur noch den Alten. Dass er noch lebte, wussten sie, weil Tante Ilse ihm einmal im Monat seine Einkäufe brachte und manchmal seine Wäsche abholte, um sie zu waschen oder zu flicken oder beides. Manchmal sah sie ihn dann. Tante Ilse hatte den Alten schon gekannt, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war.
    »Er ist nicht mehr gut zu Fuß«, hatte sie kürzlich zu Mutter gesagt, und dass er nur das Nötigste sprach.
    Als seien ihm die Worte im Laufe der Jahre zu kostbar geworden, wiederholte Bernd Tante Ilses Worte bei sich. Genau das hatte sie gesagt. Er zog für einen Moment die Stirn kraus. Die Mutter hatte darüber gelacht, wenn Bernd auch nicht verstand, was daran lustig sein sollte.
    »Er war nie ein Mann des Wortes, Ilse. Nicht nachdem …«
    »Ja«, hatte Tante Ilse schon knapp gesagt, bevor die Mut ter ihren Satz beendet hatte.
    Wolfgang und Bernd waren nun auf der Seite des Hau ses angekommen, die der Mauer am nächsten lag, doch hier gab es nur hoch oben ein Fenster in der steingrauen Fassade.
    »Hm«, brummte Bernd, schob den Kaugummi im Mund umher und war sichtlich bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte darauf gehofft, schon von dieser Seite aus einen Blick auf den Alten werfen zu können. »Lass uns einmal ums Haus gehen«, brachte er un deutlich heraus.
    Er wartete nicht ab, sondern marschierte einfach voran. Hinter der nächsten Hausecke lag überall Unrat auf dem Boden verteilt: alte Blechbehältnisse, Kiepen, in denen man Weintrauben sammelte, ein Holzschubkarren mit einem kaputten Rad. Bernd und Wolfgang wechselten einen kurzen Blick. Wolfgang stieß versehentlich gegen einen der Blechbehälter, und die beiden Jungen fuhren zusammen. Nachdem das Scheppern verklungen war, wirkte die Stille um sie mit einem Mal so drückend wie die Hitze. Bernd spürte, wie ihm der Schweiß an den Schläfen und am Hals herunterlief.
    Hatte man sie gehört? Er dachte wieder an die Mutter, die ihm verboten hatte hierherzugehen. Weil es gefährlich war. Weil der Alte gefährlich war. Weil er irgend etwas verbarg. Warum sonst empfing er nie Besuch? Warum sonst lebte er alleine? Bernd kaute entschlossener. Der Kaugummi hatte seinen Geschmack längst wieder verloren.
    Ich habe keine Angst, wiederholte er stumm, ich habe keine Angst.
    Auf gar keinen Fall wollte er seinem Bruder zeigen, dass sich schon wieder ein mulmiges Gefühl in seiner Ma gengrube ausbreitete.
    »Ich habe keine Angst«, sagte er stattdessen laut und deutlich und drehte sich herausfordernd zu Wolfgang um.
    Der starrte ihn an, gab aber keine Antwort. Gemeinsam stapften sie weiter, durch hohes, teils braunes Gras, wieder vorbei an dem verwilderten Garten. Dann erreichten sie die andere Seite des Gebäudes. Bernd fragte sich, ob damit die Mutprobe vielleicht doch schon bestanden war …
    Er unterdrückte ein Schaudern, stemmte die Hände in die Hüften und sah zu einem der Fenster hinauf. Es stand offen. Wolfgang rückte näher an ihn heran.
    Es war dieser Moment, in dem er die schmale Tür sah, die sich, kaum zehn Schritte von ihnen entfernt, im Gemäuer verbarg. Eine Hintertür. Ob die wohl offen war? Und was, wenn Wolfgang und er sich dort hineinschlichen? Würden sie damit nicht alle anderen übertreffen? Bevor er sich noch Gedanken darum machen konnte, ob seine Überlegung die richtige sein mochte, hatte Bernd den Abstand zur Tür überwunden und betätigte vorsichtig den Riegel.
    »Bernd!« Aus weit aufgerissenen Augen sah ihn sein Bruder an. Bernd zwinkerte ihm zu. »Das klappt schon. Vertrau mir.«
    Die Tür war nicht verschlossen. Mit angehaltenem Atem zog Bernd sie auf und spähte in den halbdunklen Flur, der sich dahinter auftat. Noch ein Schritt und er befand sich im Gebäude. Irgendwo war Musik zu hören, dann Stimmen. Bevor er es sich noch anders überlegen konnte, war Bernd schon zwei Schritte weitergegangen, drehte sich um und winkte seinem Bruder zu.
    Wolfgang zog die Schultern hoch.
    »Mama hat’s uns aber verboten«, flüsterte er.
    »Mama ist nicht hier«, zischte Bernd zurück. »Aber du kannst natürlich nach Hause gehen, du Memme.«
    Es fühlte sich gut an, so mutig zu tun. Solange Wolfgang ängstlich war, konnte Bernd das eigene Unbehagen besser verdrängen. »Jetzt komm schon.«
    Wolfgang schüttelte den Kopf. Dann eben nicht, dachte Bernd bei
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