Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vergessene Welt

Die Vergessene Welt

Titel: Die Vergessene Welt
Autoren: Sir Arthur Conan Doyle
Vom Netzwerk:
Blick, die bebende Stimme, die
    furchtsam hochgezogenen Schultern – diese und nicht die
    selbstsichere Miene und die ehrliche Antwort sind die wahren
    Anzeichen der Leidenschaft. Selbst in meinem kurzen Leben
    hatte ich das bereits gelernt – oder vielleicht hatte ich es auch
    durch dieses Rassengedächtnis, das wir Instinkt nennen,
    ererbt.
    Gladys besaß alle weiblichen Vorzüge. Manche hielten sie
    für kalt und hart, aber das war ungerecht. Diese Haut mit dem
    bronzefarbenen Schimmer, fast orientalisch anmutend, dieses
    rabenschwarze Haar, die großen, feuchten Augen, die vollen
    und doch äußerst feinen Lippen – alle Anzeichen von
    Leidenschaft waren vorhanden, doch mir war es bisher zu
    meinem Leidwesen nicht gelungen, sie hervorzulocken. Aber,
    komme was da wolle, an jenem Abend wollte ich dem Hangen
    und Bangen ein Ende machen und die Angelegenheit zur
    Sprache bringen. Mehr als mir einen Korb geben konnte sie
    schließlich nicht, und lieber ein abgewiesener Liebhaber als
    ein akzeptierter Bruder.
    Soweit waren meine Überlegungen gediehen. Ich wollte
    gerade das lange, bedrückende Schweigen brechen, als mich
    zwei kritische dunkle Augen prüfend musterten und ein
    entzückender Kopf lächelnd, doch mißbilligend geschüttelt
    wurde.
    »Ich habe das ungute Gefühl, Ned«, sagte Gladys, »daß du
    um meine Hand anhalten willst. Ich wünsche, daß du es nicht
    tust. So, wie es ist, finde ich es viel netter.«
    Ich zog meinen Stuhl etwas näher. »Woher weißt du denn,
    daß ich um deine Hand anhalten wollte?« fragte ich erstaunt.
    »Frauen wissen doch immer Bescheid, oder nicht? Glaubst
    du etwa, daß je eine Frau dieser Welt über einen Antrag
    erstaunt gewesen ist? Aber – ach, Ned, unsere Freundschaft ist
    so schön und angenehm gewesen. Ein Jammer, sie zerstören zu
    wollen. Spürst du denn nicht, wie toll es ist, wenn ein junger
    Mann und eine junge Frau so offen miteinander reden können,
    wie wir immer miteinander geredet haben?«
    »Ich weiß nicht so recht, Gladys. Siehst du, offen kann ich
    auch mit … mit dem Bahnhofsvorstand reden.«
    Wie ich ausgerechnet auf einen Bahnhofsvorstand
    gekommen bin, weiß ich nicht. Er stand plötzlich im Raum,
    und wir mußten beide herzlich lachen.
    »Mich befriedigt das nicht«, fuhr ich schließlich fort. »Ich
    will dich in den Armen halten, deinen Kopf an meine Brust
    drücken und … ach, Gladys, ich will …«
    Bei der Aufzählung meiner Wünsche war sie aus dem
    Sessel aufgesprungen. »Du machst alles kaputt, Ned«, rief sie.
    »Alles war so natürlich und schön, und jetzt kommst du mir
    damit! Es ist wirklich schade! Warum kannst du dich nicht ein
    bißchen beherrschen?«
    »Ich habe es doch nicht erfunden«, flehte ich. »Die Natur
    will es so. Es ist Liebe.«
    »Wenn sich beide lieben, ist das vielleicht etwas anderes,
    aber ich kenne das Gefühl nicht.«
    »Aber du mußt es doch kennen – du, mit deiner Schönheit,
    deiner Seele. Gladys, du bist für die Liebe geschaffen. Du mußt
    lieben!«
    »Man muß warten, bis sie von alleine kommt.«
    »Aber warum kannst du mich denn nicht lieben, Gladys?
    Liegt es an meinem Äußeren oder woran?«
    Sie ging eine Spur aus sich heraus, stand auf, streckte die
    Hand aus – eine so graziöse und herablassende Geste –, legte
    sie an meine Stirn und schob meinen Kopf zurück. Mit einem
    nachdenklichen Lächeln sah sie mich an.
    »Nein, an deinem Äußeren liegt es nicht«, sagte sie
    schließlich. »Du bist kein von Haus aus selbstgefälliger
    Mensch, also kann ich es ruhig aussprechen. Daran liegt es
    nicht. Es liegt tiefer.«
    »An meinem Charakter?«
    Sie nickte ernst.
    »Was kann ich dagegen unternehmen? Bitte, setz dich
    wieder hin und sag es mir.«
    Sie sah mich mißtrauisch an, was für mich noch schlimmer
    war, als das offenherzige Vertrauen, das sie mir bisher
    entgegengebracht hatte. Wie primitiv und bestialisch es
    aussieht, wenn man es zu Papier bringt, aber vielleicht ist es ja
    auch ein Gefühl, das mir allein eigen ist. Wie dem auch sei,
    sie setzte sich wieder.
    »Bitte sag mir, was es ist.«
    »Ich bin in einen anderen verliebt.«
    Jetzt war es an mir, aufzuspringen.
    »Ich spreche nicht von einem bestimmten Mann«, sagte sie
    und lachte, als sie den Ausdruck auf meinem Gesicht sah. »Ich
    spreche von einem Ideal. Dem Mann, den ich meine, bin ich
    noch nicht begegnet.«
    »Erzähl mir von ihm. Wie sieht er aus?«
    »Er könnte ungefähr so wie du aussehen.«
    »Wie lieb von dir, daß du das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher