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Die Verfemten

Die Verfemten

Titel: Die Verfemten
Autoren: Thomas Knip
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schlossen sich ihnen vier weitere Gestalten an, die hinter ihm liefen und ihn in einem offenen Halbkreis umringten. Eine von ihnen hielt eine einfache Fackel in der Hand, die mit ihrem flackernden Licht die Umgebung erhellte. Zum ersten Mal konnte er sich das Lager genauer besehen. Er war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass es eine Höhle sei, doch jetzt stellte es sich als eine schmale Einbuchtung in der Felswand heraus, die eine tiefe Furche in den Stein geschlagen hatte. Weit über ihm zogen bunte Vögel ihre Kreise, deren Krächzen von den hohen Mauern vielfach widerhallte. Er wandte sich um und konnte über die Schulter den schwachen Lichtschein erkennen, der durch das eigentliche Tal bis hierher vordrang.
    Zahlreiche Schlinggewächse zogen sich über den feuchten Stein. Ihre kleinen Blätter waren nur als trübe, grüne Flecken in der Dämmerung zu erkennen. Plötzlich führten mehrere schmale Stufen aus einem fein behauenen, sandfarbenen Marmor leicht nach oben. Sie waren durch zahlreiche Wurzeln und Lianen an vielen Stellen längst aufgesprengt und überwuchert worden. Erst spät erkannte Talon den schmalen Eingang, der tiefer in den Fels führte.
    Der Vermummte mit der Fackel ging vor. Er zog mehrere der kräftigeren Lianen beiseite, die auch ins Innere wuchsen, und vergrößerte damit den Durchgang. Der Einlass war kaum breiter als zwei Meter. Die Wände waren auf beiden Seiten durch detaillierte Reliefs reich verziert. Talon erkannte eine Gruppe von Männern, deren Kleidung und Ausstattung der entsprach, die Shions Wächter im Tempel noch heute trugen. Und über allem prangte in regelmäßigen Abständen in stilisierter Form ein gewaltiger Löwenkopf.
    „Manche von uns meinen, wir seien nicht durch Zufall hierher geführt worden“, erklärte die Frau, die offensichtlich die Funktion einer Anführerin hatte. „Manche sehen es als einen Akt der Strafe an, dass wir genau hier gestrandet sind. Andere von uns sehen darin eine Prüfung. Durch die wir vielleicht geläutert werden. Vielleicht sogar gerettet …“
    Die letzten Worte kamen flüsternd, sodass Talon sie nur mit Mühe verstehen konnte.
    Der Gang reichte kaum weiter als acht Meter in den Fels und endete an einer kleinen Nische, deren Verzierung an einigen Stellen abgeschlagen war. In der Vertiefung leuchtete eine handgroße Figur in einem nachtschwarzen Licht. Sie war deutlich gröber bearbeitet als der Rest des kleinen Schreins – als solchen betrachtete es Talon –, dennoch war die Form eines Löwen eindeutig zu erkennen. Die kleine Statue zeigte deutlich Shion, den dunklen Löwen, der seit Jahrtausenden den Tempel bewachte.
    „Diese Figur“, brachte die Frau mit schweren Atemzügen hervor, „sie ist mehr als nur ein Fetisch. Als wir sie fanden, wollten wir sie zerschlagen. Doch sobald sie der erste berührte, ging etwas in ihm vor, das uns zögern ließ …“
    Sie zog den Stoff um die Finger ihrer rechten Hand zurück und entblößte das wunde, faulende Fleisch, das kaum noch mit Haut bedeckt war. Die Finger schlossen sich um die Statue und zogen sie aus der Nische. „Schau“, hauchte sie beinahe und berührte mit der anderen Hand einen der Lianenzweige, der bis zum Ende des Durchgangs gewuchert war.
    Die Figur strahlte von einem Augenblick auf den anderen aus einem unirdischen, dunklen Licht heraus und schien fast zu glühen. Der Atem der Frau ging schneller. Ungläubig sah Talon zu, wie sich einige der Wunden in ihrem Gesicht schlossen, wie sie in Sekunden anfingen zu heilen und sich eine gesunde, hellbraune Haut bildete. Doch gleichzeitig war ihm dieses finstere Licht, das aus einer unwirklichen Quelle heraus strahlte, viel zu vertraut. Er hatte es selbst einmal gesehen, tief im Inneren des Tempels, als Shion ihn drängte, sein Amt zu übernehmen.
    Dann jedoch sah er, wie die Liane an Substanz verlor und die Fasern in sich zusammen fielen. Wie brüchiges, altes Papier brach sie raschelnd auseinander und zerfiel zu einem puderartigen Staub.
    Sofort hörte die Statue auf zu glühen. Und nur einen Atemzug später brachen die Geschwüre aufs Neue unter der Haut hervor. Nichts war von der Heilung übrig geblieben. Mit einem schmerzverzerrten Gesicht, das die Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte, stellte die Frau die Löwenstatue zurück in die Nische und zog die Tücher über ihrer Haut zurecht. Talon betrachtete sie mit einem undeutbaren Blick. Er konnte den Schmerz und die Wunden der Menschen nun beinahe körperlich
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