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Die Verdammten der Taiga

Die Verdammten der Taiga

Titel: Die Verdammten der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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merkte auch das nicht. Sie schlief weiter, von der Erschöpfung in eine Art Ohnmacht versenkt.
    Amalja war ruhig. Sie hatte sich ausgeschrien. Den ganzen Tag hatte ihr helles Schreien auf Andreas eingehackt, hatte ihn mit jedem Ton aufgespalten.
    »Sie hat Hunger«, sagte Katja. »Sie muß etwas haben …«
    »Ich werde versuchen, einen Fisch zu fangen«, keuchte Andreas. »Kann man mit den bloßen Händen einen Fisch fangen? Igor Fillipowitsch konnte es, er konnte einfach alles. Ich will es versuchen …«
    »Fisch! Sie kann doch keinen rohen Fisch essen! Willst du sie umbringen?«
    Die Susskaja riß ihre Bluse auf und wickelte Amaljas Köpfchen aus den nassen Decken. Ihr Gesichtchen war nur Mund, ihr Leben nur ein einziger Schrei. »Mein armes Vögelchen«, sagte Katja leise und drängte den schreienden Kopf an ihre Brust. »Trink, mein Liebling, trink. Deine Mamuschka ist doch da … sie ist immer da, mein Schwänchen, immer … sie wird immer für dich da sein … trink, mein Liebling …«
    Amalja preßte die Lippen auf Katjas volle Brust. Und dann trank sie, als sei sie ein Schwamm, schmatzte und sog, und die kleinen Fäustchen ballten sich und öffneten sich, die Fingerchen griffen zu der anderen Brust und krallten sich in sie fest, und während den winzigen Körper noch das Schluchzen schüttelte, war es, als quelle das Kind auf wie eine Trockenfrucht, die man ins Wasser legt.
    Die Brandung an den Steinen schäumte über Katja und Amalja hinweg, aber jetzt gab es den Fluß nicht, nicht die Strömung, nicht den flammenden Wald und über ihnen die heißen, roten Wolken. Sie waren ganz allein mit sich, eingebettet in ein stilles, gemeinsames Glück. Eine Mutter und ihr Kind … was war gegen sie die Taiga? Ein Wald, ein Stück Land, nichts Nennenswertes –
    Fünfmal am Tage wiederholte sich das: Katja stillte mitten im Fluß ihr Kind. Fünfzehnmal in diesen drei Tagen stand sie mit bloßen Brüsten in der Strömung, schob sich an den Steinen empor, die Zehen in irgendwelche Ritzen verkrallt, und Andreas stützte sie von unten. Manchmal saß sie auf seinen vor dem Leib gekreuzten Armen und stemmte die Füße gegen die Felsen, und er biß sich die Lippen blutig vor Erschöpfung. Ich kann dich nicht mehr halten, Katja! Ich kann nicht mehr … meine Arme werden lahm … Katja. Ich kann nicht mehr!
    Er konnte. Er mußte es können … denn anders konnte Amalja nicht trinken, Katja mußte mit den Brüsten aus dem Wasser heraus, aber die flachste Stelle, an der sie standen, ließ immer noch den Fluß bis unter ihre Achseln spülen. Und wenn eine größere Welle kam, überrauschte sie auch immer ihre Köpfe.
    Drei Tage und zwei Nächte standen sie im Fluß.
    Ihre Körper waren keine Körper mehr, ihre Gedanken verirrten sich, manchmal lachten sie sich an, wenn die Wellen sie überspülten, ein Lachen voller Irrsinn, oder sie preßten sich nebeneinander an den Felsen, hielten Amalja weiter über das Wasser und keuchten so sinnlose Dinge wie: »Erinnerst du dich, wie Nadeshna den Hasenrücken mit Salbei briet? Ich rieche ihn, Katjenka …« Und sie antwortete ebenso voll irrer Fröhlichkeit: »Und die Blinis aus Gänseeiern, gefüllt mit gebratenem Fisch. O ja, sie konnte kochen, unsere Nadeshna Iwanowna …«
    Drei Tage und zwei Nächte in einem Fluß. Und sie lebten weiter.
    Wer sagt da, es gäbe keine Wunder mehr?
    Am Abend des dritten Tages war das Feuer weitergezogen. Die Taiga um sie herum stand wie eine Mauer aus schwarzen Gerippen, himmelragende, angekohlte Stämme, nur noch Pfähle, zweiglos und kahl … aber sie standen.
    Das rasende Feuer hatte sie nicht fällen können, sie starben aufrecht und lebten doch weiter, denn in ihrem Inneren floß der Saft weiter, und die Wurzeln staken unversehrt in der ewigen russischen Erde.
    Man frage nicht, wie Katja und Andreas, die kleine, schreiende Amalja über ihre Köpfe haltend, zurück an Land kamen … sie wußten es selber nicht. Sie durchschwammen noch einmal die Hälfte des Flusses und krochen dann die flache Uferböschung hinauf, legten sich nahe bei Putkins verkohltem und zusammengebrochenem Wunderwerk von Goldwaschmaschine auf die Erde und überließen sich der Sonne und der unbegreiflichen Erkenntnis: Wir leben! Wir liegen auf einem festen Boden. Wir atmen brandgeschwängerte Luft – aber es ist Luft, die kühl ist gegen den Glutatem des Brandes. Wir liegen auf dem Rücken auf einer mit Asche überzogenen Erde, und der erste Vogel zieht über uns hinweg …
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