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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Peter Wensierski
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und als sich sein Eindruck erhärtet hatte, klebte er einfach sein Namensschild unter den Klingelknopf. Dann beobachtete er die Wohnung eine Weile.
    Da sein Name selbst nach etlichen Wochen noch an der Klingel klebte, machte er den nächsten Schritt.
    Jens fragte die Nachbarn, die ein Stockwerk höher in einer gleich großen Wohnung lebten, wie viel Miete sie zahlten und auf welches Konto, und ließ sich die Nummer und den Namen der Bank geben. Dann begann er auf dasselbe Konto Geld einzuzahlen, mit seinem Namen und der neuen Adresse.
    Irgendwann zog er – zunächst mit wenigen Dingen – in die Wohnung ein. Schloss und Schlüssel für die Tür waren schnell besorgt.
    Nach rund sechs Monaten ging er zur Wohnungsverwaltung in Prenzlauer Berg und erklärte den zuständigen Damen dort, er wolle sich gern als Mieter anmelden. Ach so, ja, hieß es dort nach kurzer Überprüfung der mitgebrachten Quittungen, sein Geld sei ja eingegangen. Dann steht die Wohnung nicht leer. Alles in Ordnung.
    Jens freute sich genau wie viele andere darüber, dass es mehr Lücken im System gab, als man dachte. Er hatte immer besser gelernt, sie zu suchen und zu finden.
    MARIE FAND ES aufregend, von nun an im Kollwitzkiez zwischen Prenzlauer und Schönhauser Allee zu leben. Nach und nach erkundete sie die nähere Umgebung.
    Das Hinterhaus war verfallen, der Seitenflügel stand leer. Aber im Nebenhaus wohnten etliche junge Leute aus Halle, Leipzig und Dresden. Aus einem offenen Fenster hörte sie den ganzen Tag Schreibmaschinengeklapper.
    Darunter lebte der Kohlenhändler, dessen Lager sich im letzten Hinterhof befand. Einer seiner Kohlenträger hatte eine nackte Frau auf den linken Arm tätowiert. Marie begegnete ihm fast jeden Tag, wenn er die Briketts auf einer Rückenlade oder in der Weidenholzkiepe tief gebückt in die Keller hinunter- oder bis in die fünften Stockwerke hinauftrug.
    Im Hochparterre des Vorderhauses wohnte der Hauswart, ein etwas zu dicker Berliner, der sich an wärmeren Tagen gern im Feinrippunterhemd, auf ein Kissen gestützt, im Fensterrahmen zeigte. Er verließ selten das Haus und wenn, dann nur, um abends in die Kneipe am Wasserturm zu gehen. Bei ihm musste man Besucher, vor allem solche aus dem Westen, die über Nacht blieben, ins Hausbuch eintragen. Jens versuchte, sich an diese Regel zu halten. Mit angespanntem Gesicht echauffierte sich der berlinernde Hauswart deshalb regelmäßig darüber, wie viele Personen denn wohl in sein Zimmer passten, wenn Jens mal wieder gekommen war, um Gäste einzutragen.
    Im Nachbarhaus hatte bis vor kurzem sogar noch eine DDR-Legende gelebt, der Bluesmusiker Stefan Diestelmann. Aber der, so hörte Marie von einem Studenten im Seitenflügel, sei nach einem Konzert einfach im Westen geblieben.
    Prenzlauer Berg mit seinen bunten Bewohnern lag trotz allem keineswegs im toten Winkel der Regierung. Wo es ging, war die Staatsgewalt zur Stelle, um einzuschreiten, wenn jemand seinen Freiraum allzu großzügig ausdehnen wollte. Oft gab es Ärger mit der Polizei, wenn zu laut gefeiert wurde oder zu viele Leute in einer Wohnung oder im Hinterhof zusammenkamen. Dann erschienen die Uniformierten in größerer Zahl und es hieß: Die ungenehmigte Versammlung muss aus feuerpolizeilichen Gründen aufgelöst werden.
    Auf ihrem Weg sah Marie häufig zwei Volkspolizisten gemeinsam ihre Pflicht verrichten, die darin bestand, ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung herzustellen, indem sie langsam den Bürgersteig auf und ab schritten.
    Ihre Zeit war mit dem Studium und ihren Freundinnen ausgefüllt. Sie hatte keine Verbindung zur rebellischen Szene der Künstler, zu Punks oder den Leuten in den politischen Zirkeln. Daher war sie auch noch nie in einen Konflikt mit der Staatsgewalt zur Klärung eines Sachverhalts oder in den Bereich polizeilicher Maßnahmen geraten. Aber eines Tages wurde sie Zeugin eines Vorfalls, der ihr klarmachte, wie schnell man ins Visier der Ordnungsmacht geriet.
    Der Schnee auf den Straßen war längst geschmolzen, der Winter schien allmählich vorbei zu sein. Bei einem ihrer ersten Erkundungsgänge rund um die Rykestraße sah sie an einem kalten Montagmorgen, wie zwei Polizeiautos vor einem der Häuser stoppten und Angehörige der Volkspolizei im Flur verschwanden.
    Nur einen Moment später kamen die beiden Staatsdiener mit zusammengerollten Plakaten wieder heraus. Eine ältere Frau drängte schimpfend hinter ihnen her. Die Rentnerin rief so laut, dass man es über die ganze Straße
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